Leben auf Umwegen Leseprobe

Vorwort – oder, wie aus einer Zettelbotschaft ein Buch geworden ist

Ich hatte eine glorreiche Idee und habe sie in ihren Grundzügen aufgeschrieben. Die Hauptfiguren wurden lebendig und die Geschichte in meinem Kopf nahm langsam Gestalt an.

So war es nicht.

Ich schreibe Tagebuch, seitdem ich einen Stift halten kann. Angetrieben durch das Suchtverhalten, das ich seit meinem 15. Lebensjahr an den Tag legte, vertraute ich mich in regelmäßigen Abständen meinem Tagebuch an. Dadurch hat sich mit der Zeit ein unheimlich großer Berg aus losen Zetteln, Einträgen in Hausaufgabenheften, Terminkalendern und jeder Menge Tagebücher angehäuft.

Eines Tages beschloss ich, sämtliche Einträge nach Datum sortiert in ein Textdokument zu manövrieren. Es fühlte sich gut an, alles geordnet beieinander zu wissen. Daraufhin schrieb ich auch noch die Geschichte drum herum. Langsam nahm dieses Dokument Buchformat an. Ich arbeitete über viele Jahre daran und auch mein Schreibstil sowie meine Denkweise änderte sich mit der Zeit. Trotzdem, ich wollte es nicht umschreiben. Was nützt das, wenn man doch versucht zu erklären, was in einem vorgeht? Mittlerweile spielte ich mit dem Gedanken, mit meiner Geschichte an die Öffentlichkeit zu gehen, aber ich hatte Angst davor, Andere ebenfalls dazu anzustiften, das von mir beschriebene Verhalten zu imitieren. Ich hing diesem Gedanken also nicht weiter nach, bis eine Bekannte zu mir sagte, dass ich es so schreiben sollte, dass es nicht triggert. Eine große Aufgabe. Ich überlegte, welche Erklärungs- und Lösungsansätze ich den jeweiligen Verhaltensweisen entgegensetzen könnte.

Daraus entstand nun dieses Buch, wie es hier heute liegt. Es ist meine Geschichte. Wie schon angedeutet, habe ich das Buch zuerst nur für mich selbst geschrieben. Es hat mir dabei geholfen, mich besser zu verstehen, die Frage nach der Schuld zu verwerfen und meine Eltern, die ich sehr lieb habe, wieder in den Arm nehmen zu können.

Manchmal, wenn ich einen schmalen Weg in einem der vielen Berliner Parks entlang gehe und die Blätter der Pappeln leise rauschen, erinnere ich mich an diese Zeit zurück, in der es mir nicht gut ging. Ich möchte trotzdem keine Stunde davon missen. Warum nicht? Nun ja, das war nun mal ich. Ich stehe zu mir, meiner Familie und unserer Geschichte, die ich heute mit allen teilen möchte, die sie hören wollen. Vielleicht muss man manchmal ein bisschen provozieren, um die Menschen aus ihrem Schneckenhäuschen zu locken und manchmal reicht es ihnen schon aus, wenn man ihnen Hoffnung schenkt.

Adrian

Ich will weitergehen. Ich eile in flotten Schritten, aber ein starker Rebell hat sich an meine Hacken geheftet wie ein widerspenstiger Parasit. Mächtig und doch noch seine Kräfte sparend, lungert er hinter mir, lässt mich nie aus seinem Blickfeld entweichen, lauscht auf jedes Wort, meine Sinne sind auch die seinen. Will ich mich einen Moment niedersetzen vor Erschöpfen, nimmt er mir meinen Platz fast schon selbstverständlich. Weiter gescheucht von ihm, den ich hier Adrian nenne, gehe ich an einem Zuckerstüblein vorbei und will mich an süßer Energie belaben. Da lässt Adrian seine Mannschaft ohne Wimpernzucken antreten, sich vor mir in die Reihe drängen und mich jeden Cents berauben. Nun fang ich an, nur noch vor mich hinzulatschen, müde und mit betäubten Beinen. Da beschwört Adrian ein Gewitter, geprägt von Schaudern einjagenden Blitzen und zornigem Donner, herbei. Der Regen frisst sich in meine Kleider, weicht mich komplett auf, lässt mich frieren.

So renn ich und Adrian ruft: „Schneller! Schneller!“ Dabei grölt er nur so vor Lachen.

Da zuckt mein Herz und lässt mich wissen: Das bist nicht du!

Ich bleibe stehen, drehe mich um und sehe in Adrians leere Augen: „Nicht ich bin Nichts ohne dich! Du, du Parasit, bist nichts ohne mich!“

Noch ehe er mir dazwischen funkt, recke ich mich gen Himmel und strecke die Hände empor, schließe die Augen und rufe: „Sonne, Sonne, bitte, bitte, schenk mir Licht und Wärme!“

Da verziehen sich alle Wolken und der Himmel wird rein und blau. Sonnenstrahlen fluten, fluten, überfluten Adrian.

Hin und wieder und manchmal eben auch nicht. Ich schätze, viele von uns würden meinen, dass Sucht der Ausdruck einer tiefen Verzweiflung ist, die anders nicht zu bewältigen möglich scheint: zu schmerzlich, zu erschreckend, zu aussichtslos. Man versteckt sich hinter der Sucht, um zu überleben, und doch will man eigentlich nur gefunden werden.

Warum rufen Kinder nach ihren Eltern, während sie sich im Grunde doch gerade verstecken?

Wie diese Kinder, sucht auch jeder einzelne von uns nach Liebe, Geborgenheit und Schutz. Bei frisch geborenen Babys reicht das Weinen allein aus und Mama kommt und tröstet. Jugendliche oder auch Erwachsene, die in eine unstillbare Sucht verfallen, weinen auch, nur anders.

***

Mein Name ist Emma und ich wurde im Jahr 1995 um 22:56 Uhr in Berlin geboren. Aufgewachsen bin ich in einem behüteten Elternhaus. Mein Vater, meine Mutter und ich durchlebten gemeinsam die endlosen Züge der Liebe, und so etwas wie Streit kannten wir wirklich nicht. Das mag vielleicht kurios klingen, aber das Türenknallen war in unserer Familie nur etwas für Anfänger. Wut und Ärger klatschten nicht mit Karacho ins Gesicht des Anderen – nur ein stiller Anflug von Missverständnissen und heimlichem Unwohlsein kroch wie durchsichtiges Gas durch die Schlitze der Türen, die meine Mutter leise hinter sich zuzog, um Konflikten aus dem Weg zu gehen. Gas ist giftig und irgendwann erstickt man daran. Wie kann man nur so blöd sein?

An einem Abend hatte ich ein wenig länger gebraucht um mich von meiner besten Freundin Marie, die ich in der Grundschule kennengelernt hatte, zu verabschieden. Es war schon fünf vor acht Uhr und ich brauchte mindestens fünf Minuten zu unserer Schule und von da noch einmal zehn weitere Minuten bis nach Hause. Unmöglich noch pünktlich um acht Uhr zu kommen! Ich war erst neun Jahre alt, aber schon lange hatte ich begriffen, dass man auf keinen Fall Streit provozieren durfte. Du musst immer höflich sein. Du musst gute Noten schreiben und du musst immer alles unter Kontrolle haben. Immer! Alles! Auf dem Heimweg pflückte ich ein paar Blumen als Entschuldigung für meine Verspätung. Die Stängel irgendeiner Unterart von Sonnenblumen steckten ihre Köpfchen durch den Zaun einer Gartenlaube, sodass ich sie problemlos mit meinen Fingernägeln abknipsen konnte. Ich hatte mich auf den Boden gehockt und suchte mir die kleinen Pflänzchen gut aus. Es war ein schöner Nachmittag gewesen. Marie und ich trafen uns beinahe jeden Tag, und auch unsere Eltern hatten aufgrund dessen Bekanntschaft geschlossen, sodass wir irgendwann sogar gemeinsam in den Urlaub gefahren waren. Mit einem langen Grashalm umwickelte ich die Blumen und knotete sie zusammen.

Ein paar Minuten nach acht traf ich dann Zuhause ein – mit Blumenstrauß. Mein Vater sah mich an, zeigte mit einer Geste von: ´Du-bist-zu-spät´, auf die Uhr und nahm billigend meine Entschuldigung an. Meine Mutter stellte den Strauß daraufhin in eine Vase und tischte das Abendessen auf.

Auf welcher Straßenseite bist du gelaufen?“, fragte mein Vater skeptisch und setzte sich an den gedeckten Tisch.

Nur auf der, wo auch die Laternen stehen“, antwortete ich leise, wusch mir schnell die Hände und setzte mich dazu.

Meine Verspätung war vergessen und wir plauderten über Gott und die Welt, mein Vater verkündete mir all das, was er bei Phönix gelernt hatte und fragte mich schwierige Matheaufgaben ab, worauf ich eigentlich nie wirklich scharf war, aber was soll man machen? Nach dem Fest-Spaghetti-Essen räumte ich meinen Teller ab, stellte ihn in die Spülmaschine, wie es sich gehört, setzte mich auf den Fußboden und wippte im Schneidersitz unaufhörlich von der rechten auf die linke Seite. Ich erzählte davon, wie Marie und ich gemeinsam Marmorkuchen backen wollten, ihre Spezialität! Letztendlich war der Teig so lecker, dass es nur ein halber Kuchen wurde und der restliche Teig in unseren Mägen gelandet war.

Mein Vater sah mich wieder an: „Denk´ an die dicken Oberschenkel.“

Ein Satz, den er wahrscheinlich gar nicht so ernst meinte, wie ich ihn aufnahm, und den er öfter mal erwähnte, aber nie das damit gemeint hatte, womit ich mich eh gerade beschäftigte.

Aber es verbirgt sich noch etwas hinter dieser Aussage. Egal, wer es gesagt hätte: ein Familienmitglied oder ein nahestehender Freund gibt einem vor, dass Essen etwas Schlechtes ist, aber man muss essen, um zu überleben. So wächst man schon als Kind in einem Zwiespalt zwischen der Gesellschaft, die zwar an jeder Ecke die größten Köstlichkeiten zur Verfügung stellt und gleichzeitig das Schlankheitsideal des abgemagerten Körpers glorifiziert und der lebensnotwendigen Verpflichtung essen zu müssen, auf.

Zu dieser Zeit hatte ich gerade mit dem Hockeyspielen angefangen, nachdem ich schon gefühlte tausend andere Sportarten ausprobiert hatte, und stellte mich – wie hätte es auch anders sein sollen – noch nicht besonders gut an. Ich war etwas schüchtern und konnte mich nicht besonders in die eng zusammenklebende Gruppe einfügen, wartete eher darauf, dass mich jemand ansprach. Alle im Team waren hübsch und schlank. Und was war ich?

So genau wusste ich das eigentlich gar nicht. Also abends nach dem Essen eher ziemlich rundlich, aber morgens war meistens wieder alles gut. Belassen wir es dabei, dass ich mir etwas unsicher war.

Im Meister-Deutsch-Unterricht – es gab Förder- und Meisterkurse – lasen wir gerade ein Buch von Christine Feher über die Geschichte einer Magersüchtigen. Magersucht. Magersucht hatte angeblich auch die Tochter des Freundes meiner Tante. Aber was war das eigentlich? Eine Frage, die mich beschäftigte, zumal ich in der Klassengemeinschaft auch nicht grade einen besonders hohen Rang belegte. Mehr hielt ich mich zurück und ließ hin und wieder unangebrachte Sprüche, besonders von einer speziellen Klassenkameradin, wenn man das so nennen kann, über mich ergehen.

Einen wirklichen Grund hatten Magdas Sticheleien wahrscheinlich nicht, ihr machte es vermutlich einfach Spaß, oder sie wartete darauf, dass ich zurückschlug, was ich aber nie tat. Manchmal trat sie nach mir, provozierte mich. Aber ich tat nichts. Ich wehrte mich nicht, ich petzte nicht und ich trat genauso wenig zurück. Diesen Stress versuchte ich in der Schule zu lassen, und wenn ich das Gelände verließ, verließ ich auch das Terrain dieser immer wiederkehrenden Niederlage. So wurden aus dieser einen Geschichte ungefähr fünf Bücher, die natürlich nur ich las und nicht der gesamte Kurs. Wir besprachen das Thema und schlossen es wieder ab, als wäre nichts gewesen, tauchten in eine andere Geschichte ein und so weiter. Ich hingegen war weit davon entfernt abzuschließen.

An dieser Stelle stellt sich die Frage nach dem Warum, und das Warum ist wohl eine der am schwierigsten zu beantwortenden W-Fragen überhaupt, und dennoch die wichtigste.

Nehmen wir das Beispiel einer Klassengemeinschaft wie die meines Deutsch-Leistungskurses mit ungefähr 15 Schülern. Diese 15 Schüler, inklusive mir, lesen ein Buch über ein psychisches Problem, in diesem Fall das der Magersucht. Von diesen 15 Schülern sind 14 betroffen, empfinden eventuell Unverständnis, und ein Schüler bleibt in der Geschichte hängen und findet etwas besonders Abstoßendes vielleicht nicht nur spannend, sondern sogar schön. Klartext: Magersucht wünscht sich generell keiner, außer ein junger Mensch hat mit etwas in seinem Leben zu kämpfen, mit dem er erstens nicht klarkommt, zweitens eventuell nicht einmal etwas von seinem Problem weiß, und drittens, wenn er das Problem kennt, keinen Lösungsweg findet. Hauptsächlich liegt das Problem, beziehungsweise der erste Schritt, in eine psychische Erkrankung zu verfallen, in der Unwissenheit, sprich: das Problem schlummert versteckt im Unterbewusstsein des Menschen. Auch das hat einen Grund. Meist sind die ´versteckten Probleme´ für den Menschen, der sie in sich trägt, nicht aushaltbar oder schlicht nicht bekämpfbar, was dazu führt, dass das Bewusstsein sie nicht an sich heranlässt, aus Angst, sich selber damit zu überfordern.

Die Frage nach dem Warum

Inzwischen hatte ich endlich auch einen eigenen Computer in meinem Zimmer zu stehen, und endlich, endlich hatte ich auch die Möglichkeit, frei im Internet zu surfen!

An einem Nachmittag, ich kam gerade von der Schule, schmiss ich meine Schultasche in die Ecke meines Zimmers, tauschte Jeans gegen gemütliche Jogginghosen, holte mir einen Teller Kartoffeln mit Bohnen und platzierte ihn auf meinem Schreibtisch. Niemand war zu Hause und somit war ich in unserer kühlen Wohnung im ersten Stock ungestört. Trotzdem schloss ich die Zimmertür hinter mir und starrte auf meinen Teller. Die Bohnen glänzen ja! Gemüse, so wusste ich, war gesund. Aber dass es glänzt?

In meinen ´Büchern´ war das Glänzen immer eher nicht so gut. Also holte ich ein Zewa-Tuch, wickelte die Bohnen darin ein, bis das Tuch sich vollgesogen hatte und die Bohnen trocken auf meinen Teller zurückplumpsten. Ich aß ein bisschen davon, beziehungsweise ich stocherte darin herum, was sonst nie meine Art war. Nach der Schule und dem vielen Sport, den ich trieb, konnte ich gut mal zwei gehäufte Teller Mittag essen! So stellte ich meinen Teller diesen Nachmittag an den Rand meines Schreibtisches, schaltete meinen PC ein und googelte wie eine Besessene nach nur einem Thema: Magersucht. Eine sogenannte Krankheit, die ich einfach nicht verstand, mich aber dennoch anzog.

So lief das ungefähr drei, vier Wochen, in denen ich aber ganz normal aß, vermute ich zumindest. Auf jeden Fall freute ich mich jedesmal weiterhin, wenn meine Mutter so lieb war, mir eine Kugel Eis zu spendieren. Doch eines Tages, ich schaute gerade Videos über das mir kuriose Thema Magersucht auf Youtube, als der Begriff ´Pro Ana´ fiel. Pro Anorexie, um es zu erläutern, bedeutet pro beziehungsweise für Magersucht. Es sollte also wirklich Seiten und Foren im Internet geben, die diese Krankheit auch noch verherrlichen? Kaum zu glauben! In mir breitete sich ein Gefühlschaos aus. Endorphine strömten durch meinen Körper und ließen mein Herz schneller schlagen. Wahrscheinlich kann man sich schon denken, was ich nun wie eine Verrückte googelte.

Die Reporterinnen des Videos hatten nicht viel zu dem Sachverhalt von sich gegeben, aber sie nannten mir ein paar Zitate, wie: „Du bist niemals zu dünn.“ Und: „Dünn sein ist wichtiger als gesund sein.“ Außerdem sagten die beiden Reporterinnen, dass es verboten werden sollte, solche Inhalte im Internet zu veröffentlichen. Sie seien gefährlich und bei manchen könne diese bösartige Krankheit sogar zum Tod führen. Ich informierte einen damals guten Freund von mir, Tim, der sich bereit erklärte, mir bei meiner Suche nach Pro Ana Seiten zu helfen.

Aber du bist doch gar nicht zu dick!“, hatte er erwidert.

Aber anscheinend mochte er mich doch so sehr, wahrscheinlich war er auch ein wenig in mich verknallt gewesen, dass er mir half. Weiter darüber gesprochen hatten wir allerdings nicht, und nachdem wieder einige Monate ins Land gestrichen waren, hatte ich die entsprechenden Seiten gefunden.

Schon auf der Startseite wurde vor dem Sog und den triggernden Inhalten gewarnt. Zudem las ich einen Appell, der aufforderte, diese Seite sofort zu verlassen, wenn man nicht selbst in der Magersucht steckte. Ich verließ die Seite auch tatsächlich auf der Stelle. Das hatte wohl aber mehr mit meiner persönlichen Aufregung zu tun und nicht mit diesen ersten Zeilen. Diese Angst, wenn es Angst war, verflog aber auch wieder relativ rasch und am nächsten Tag konnte ich mich wieder unbeobachtet an meinen PC setzen und ruhig jegliche Inhalte durchlesen. Hierzu muss man sagen, dass die Psalme, Regeln und Gebote nichts, so wirklich gar nichts mit einer gesunden Lebensweise zu tun haben, und dass sie sich auch entschieden von allen, wirklich allen anderen Diäten abheben. Außer man zählt auf die Nulldiät plus zig Stunden Sport. Aber wer das nicht selbst als krank einschätzt – sicherlich könnte man es auch in der heutigen Jugendsprache als gestört bezeichnen – der sollte sich mal an den Kopf fassen und noch einmal darüber nachdenken, was einem wirklich im Moment im Wege steht. Niemand kann einem weiß machen, dass man so unzufrieden mit seinem Körper sein kann, ihn in dem Zuge dermaßen auf Verzicht einstellt und in Anbetracht dessen auf der Grenze des Todes geht, oder sich willentlich darauf auch nur einlässt.

Ich versuchte mich unwissentlich vor dem Ersticken zu bewahren, indem ich begann, meine Eltern dazu zu zwingen, jedes unausgesprochene Wort endlich herausplatzen zu lassen. Ich suchte nach der Wahrheit, die ich nicht kannte und von deren Existenz ich noch nicht einmal etwas wusste.

Wenn es dunkel wird

Ich nahm mir diese Psalme, deren Inhalt ungefähr so viel aussagte wie: ´Ich darf nicht essen, muss hungern, werde zugleich alles dafür geben, und ende es mit dem Tod´, nicht wirklich zu Herzen. Wahrscheinlich schützte mich die Tatsache, dass ich doch noch verhältnismäßig jung war. Diese Thematik beschäftigte mich doch sehr. Bemerkbar machte sich das meistens abends.

Weit vor meiner Schulzeit, im Alter zwischen fünf und sechs Jahren, kam ich lange nach dem Zubettgehen noch einmal hinaus und sagte, ich könne nicht schlafen. Die ersten Male brachten mich meine Eltern dann wieder zu Bett, sangen für mich Gute-Nacht-Lieder oder lasen mir eine Geschichte vor. Nützen tat das jedoch wenig. Ich war traurig, wusste aber nicht warum und schob diese Traurigkeit auf Paul, den verstorbenen Freund meiner Oma, und Berry, den verschiedenen Hund meiner anderen beiden Großeltern. Ich brauchte einen Grund dafür, dass es mich nach Einbruch der Dunkelheit auf mein schmales, weißes Fensterbrett zog und sich mein Blick in dem endlosen Nachthimmel verlor. Manchmal wünschte ich, meine Eltern würden mich schlagen, dann hätte ich mich gegen dieses Ding in mir wehren können, ich hätte zu jedem gehen können und derjenige hätte mich befreit. So konnte ich nur stumm dasitzen und darauf warten, dass mich endlich jemand in meinem Versteck fand, den Vorhang beiseite schob und mich in den Arm nahm. Mein Vater reagierte meist ärgerlich und verstand nicht, was mich bewegte.

Es ist schon nach neun. Du solltest längst schlafen!“

Zornig stellte er mich dann unter die kalte Dusche. Gewalt wendeten meine Familie nie an, es sollte doch alles perfekt und harmonisch sein! Meine Mutter kam nicht, um mich zu beschützen. Das hätte am Ende noch einen Streit verursacht – und das auch noch vor dem Kind! Erst als sich die Situation beruhigt hatte, die Türen hinter mir verschlossen wurden und ich über meinen tropfnassen Lieblingsschlafanzug weinte, erklärte meine Mutter meinem Vater, dass sie sein Verhalten nicht als angemessen empfand. Gesehen oder gehört habe ich für meinen Teil jedoch nichts davon! Ängstlich und verständnislos blieb ich meinem ebenso verständnislosen Vater ausgeliefert. Irgendwann gewöhnte ich es mir ab, meine Sorgen meinen Eltern anzuvertrauen. Das soll auf keinen Fall ein Vorwurf sein, da mir zu diesem Zeitpunkt nicht annähernd bewusst war, dass ich mein Zimmer nicht verließ, weil ich insgeheim wusste, dass sie mir die Sorgen nicht nehmen konnten. Zumal ich noch nicht einmal wusste, was los war mit mir und mit allen anderen. Ich fühlte mich von außen bedroht, ohne benennen zu können, was es genau war. Ich wusste nur, dass sich meine Eltern, insbesondere aber mein Vater davon terrorisiert fühlte, weil ich nicht schlafen wollte. Und so lernte ich, dass ich dafür bestraft wurde, wenn ich meine Ängste und meine Traurigkeit zeigte. Von da an begann ich, diese Gefühle zu verheimlichen.

Nur meinen Puppen und den Kuscheltieren, die ich jede Nacht so auf meinem Bett um mich herum drapierte, dass sie auch ja nicht unter meiner Bettdecke ersticken konnten, vertraute ich mich an. Ich beschützte sie und sie mich, beinahe zwanghaft.

Das starke Streben nach Harmonie, welches vor allem von meiner Mutter ausging, brachte uns alle in die Lage, unangenehme Gefühle von sich abwehren zu müssen und sie nicht an sich heran-zulassen. Ein Grundsatz, geschürt von Angst und Aggressionen, führt trotz des konfliktfreien Familienlebens weniger in das Zukunftsglück als in Lebens- und Zukunftsängste. Unter diesen Umständen wurde ich übergehorsam und begann, mich beinahe penetrant anzupassen. Ob mit sozialer Einstellung, Sensibilität oder Mitgefühl. Aber diese übertriebene Vernunft spiegelte auch nur meine Ängste wieder und zeigte, wie eingeengt ich mich fühlte.

Mit zehn Jahren begann ich regelmäßig Tagebuch zu führen. Meistens schrieb ich auf eben diesem Fensterbrett gehockt mit Blick in die endlosen Tiefen des Nachthimmels, der sich wie eine Decke aus Samt über die Sonne breitete. Manchmal, wenn die Sterne zu sehen waren, sprach ich mit den beiden Verstorbenen. Ich bildete mir wirklich ein, dass sie da waren, und basteltet mir ein Telefon, damit sie mich auch verstanden. Sie waren doch so weit weg. Dafür wickelte ich all meine Glücksbringer in ein Stück Papier und verknotete das ganze Bündel. Von außen konnte natürlich niemand wissen, dass dieses ´Gebilde´ ein Telefon darstellen sollte.

Die Gedichte oder Texte, die ich in meine Tagebücher schrieb, häuften sich mit der Zeit wirklich in großen Mengen an. Kennen tun sie die wenigsten, da fast alle von ihnen sehr traurig und selbstmitleidig klingen. Ich wusste nicht, woher diese Traurigkeit kam, konnte nicht benennen, was mich bewegte und skizzierte nur das bedrückende Gefühl in mir, welches mich nicht loszulassen schien.

Mein Tagebuch

Tag, Raum und Zeit

bilden die Ewigkeit.

Mit Unterschieden,

verschiedenen Taten und Gefühlen, die offen liegen.

Tag, Raum und Zeit

bilden die Ewigkeit.

Hier gebe ich mich preis,

mal ganz laut, mal ganz leis.

Ich denke, viele Eltern, Lehrer, Trainer, andere Autoritätspersonen oder Betreuer von Kindern und Jugendlichen fragen sich oft: Was ist zu tun, wenn ein Kind in Trauer, Zorn, Wut oder Angst zu ertrinken droht?

Was denkt ein Kind, das stumm weinend auf dem Fensterbrett hockt?

Es ist schon dunkel, bald ist es Nacht, wann haben wir zusammen gelacht?

Du gingst weg von hier und nun fehlst du mir, siehst du, jetzt muss ich schon weinen.

Es ist schon dunkel, es ist schon Nacht, ich hab´ so lang an dich gedacht.

Wen ich damals damit genau meinte, weiß ich nicht. Man könnte es sich so vorstellen, als würde man einen langen Weg entlanggehen und irgendwann steht man an einer Kreuzung ohne Schilder. Man mag noch so genau hingucken wollen, aber einen Wegweiser für das Leben gibt es nicht. Jeder Mensch ist für sich einzigartig und muss lernen, seinen eigenen Weg zu gehen. Natürlich nehmen wir als Kinder unsere Eltern als Wegbegleiter zu Hilfe und später lösen wir uns wieder von ihnen und finden neue Begleiter. Manchmal sind es Freunde, Liebhaber oder Liebhaberinnen. Es kann so vieles sein. Vielleicht auch die Musik oder der Sport. Man sagt doch: ´Viele Wege führen nach Rom.´ Aber ich dachte nicht an eine spezielle Person, wenn ich mir auch einredete, dass Paul und Berry von mir gegangen waren und ich aufgrund dessen traurig war.

Ich liebte meine Eltern und sie mich, das stand fest. Mein Vater hatte mir das Schwimmen beigebracht und das Fahrradfahren, wir waren zu dritt in den Urlaub gefahren und ich durfte in den Alpen auf Skiern die Berge im Schneeflug herunterbrettern. Was also stand mir im Weg? Ich war gut in der Schule, trieb Sport und machte Musik. Was also fehlte mir? Ich spürte diese tiefe Einsamkeit in mir, die ich nicht verstand. Ich suchte nach einem Grund für das Gefühl in mir, das ich ebenso wenig zu benennen, wie auszudrücken wusste. Und ich fand keine Antwort darauf, mit wem ich darüber reden konnte, da es mir im Grunde an nichts fehlte. Ich durfte auch nicht meckern oder wehleidig sein. Mein Vater schimpfte oft, wenn ich krank war, durch die Gegend hustete und meine Keime munter überall verteilte.

Huste einmal richtig und dann ist gut!“, schrie mich mein Vater an.

Kläglich hatte ich versucht, den juckenden Reiz in meinem Hals zu unterdrücken, aber es gelang mir nicht. Daraufhin reagierte er, als hätte ich einer wichtigen Anweisung nicht gehorcht und schimpfte mit mir. Und auch wenn ich mich verletzt hatte, bekam ich nur zu hören, ich solle mich nicht so haben.

Ich erinnere mich noch daran, als ich meine Schulfreundin und Nachbarin Stella zu Hause besucht hatte. Sie saß auf ihrem Hochbett und spielte mit dem neusten Gameboy, der gerade herausgekommen war irgendein Farmspiel, welches ich nicht kannte, da meine Eltern so etwas nicht kauften. Ich saß neben dem kleinen Mädchen, die im Erdgeschoss wohnte, und malte Stella ein Bild von einem Bauernhof. Auf einer grünen Wiese tummelten sich einige Strichmännchen mit viereckigen T-Shirts, auf denen Kringel und andere außerirdische Muster abgebildet waren. An der Seite hatte ich versucht, eine dreidimensionale Scheune zu zeichnen, die eher einem zerstörten Schuhkarton glich. Hinter den verschiedenen Tieren, die man nur aufgrund ihrer Farben erkennen konnte, blinzelte die Sonne zwischen fetten Ballonwolken hervor und ein paar Blümchen umrankten das Geschehen meiner blendenden Fantasie. Ich hatte versucht, den Plastikstuhl über den blauen, flauschigen Teppich nach hinten zu schieben, um aufzustehen und Stella mein Gemälde zu überreichen. Der Stuhl wollte jedoch nicht so wie ich wollte, und ich war krachend mit dem Kopf gegen den Heizkörper geknallt. Ich blutete und Stellas Mutter hatte schnell meinen Vater angerufen, der mich abholte. Mit einem kalten Waschlappen auf dem Kopf hatte er mich in das Ehebett meiner Eltern gelegt und sich daneben an den Computer gesetzt. Ich weinte, mein Kopf schmerzte und das Blut begann in Rinnsalen über meine Haare zu laufen. Er schaute nicht auf, während er Solitär spielte und ich stillschweigend neben ihm lag. Abwarten. Ich biss mir auf die Unterlippe um die Tränen zu unterdrücken, die ihn vermutlich zur Weißglut gebracht hätten. Aber es hörte nicht auf zu bluten.

Wie benommen hatte ich in diesem Bett gelegen und gewartete, dass er mich in den Arm nahm, mich tröstete, mich beschützte. Erst viel später waren wir doch ins Krankenhaus gefahren, wo die Wunde genäht werden musste.

Was lernte ich daraus? Krankheit, Unwohlsein, Schwäche oder auch einfach nur Unlust durfte ich nicht äußern. Dafür wurde man bestraft. Und Mama tat nichts. Sie schien unsichtbar. Sie war einfach nicht da. Leere. Stille. Und am Ende: Schutzlosigkeit.

Aber all das sah ich nicht. Ich begriff es nicht. Hätte mich jemand gefragt, wie es mir ginge, hätte ich geantwortet: „Gut.“

Ich lebte in einer harmonischen Familie, in der nie gestritten wurde. Ich schrieb nur gute Noten, trieb Sport und machte Musik. Was wollte man mehr? An welcher Stelle hätte ich aufstehen und sagen sollen: „Stop! Bis hier hin und keinen Schritt weiter! Du tust mir weh!“

Ein Schlag nur hätte genügt und ich hätte gewusst, woher die Traurigkeit in mir kam. Ein Schlag nur und ich hätte es jemandem anvertrauen können, der mir half. Ein Schlag nur und ich hätte einen Grund gehabt, sauer zu sein, zurückzuschlagen oder wegzulaufen.