Die roten Hosen und die Wölfe
Völlig erschöpft stieg meine Mutter vom Fahrrad: „Was hast du dir diesmal ausgedacht, so weit auszubüxen, wenn ich dich nicht an den roten Hosen erkannt hätte, wärst du im Wald und die Wölfe hätten dich gefressen, geh nie wieder allein in den Wald!“
Wie war es dazu gekommen?
Die flache und kiefernbestandene Lausitz birgt einen Schatz in der Tiefe, die Braunkohle. Die Bagger zahlreicher Tagebaue durchpflügten und durchpflügen weiterhin die Landschaft. Die Tagebaue sind riesige Gruben in der Erde, oft kilometerlang und bis zu sechzig Meter tief, aus denen die nasse und schwarze Kohle für die Kraftwerke und die Brikettfabriken gebaggert wurde und wird. Onkel Paul arbeitete in so einer Grube auf einem Bagger. Die Männer sprachen sehr viel über die „Kohle“ und meinten immer die Gesamtheit der Braunkohlenbetriebe.
Einiges zu diesem Thema hörte ich immer wieder, konnte mir aber kein Bild von der „Kohle“ machen. Dort hinter dem Wald ist die Kohlengrube, wo die meisten Männer des Dorfes arbeiteten. Dem Kinderwagen war ich entstiegen und konnte nun mit meinen eigenen Beinen laufen, sehr zum Leidwesen von Mutter und Tante. Ständig mussten sie wissen: Wo ist der Junge?
Mutter mit Siggi
Obwohl ich den Hof nicht verlassen durfte, stand eines Tages das große Tor offen und ich entwischte zunächst unbemerkt. Auf dem Fußweg entlang unseres Zaunes, dann über die Dorfstraße und auf dem Feldweg zwischen zwei bäuerlichen Anwesen ging es zum Wald in Richtung Lohsa. So gelangte ich vorbei an saftigen Wiesen und mit Kartoffeln und Getreide bestellten Äckern fast bis an den Waldrand mit seinen alten Kiefern, etwa dreihundert Meter entfernt vom Dorf.
Onkel Herbert, er war Schneidermeister, hatte aus einem ausrangierten roten Inlett eine ebenso rote Hose für mich genäht. Mit dieser Warnfarbe war ich weit sichtbar, und falls man mich wieder einmal suchte, wurde nur nach „unserem Ausreißer mit den roten Hosen“ gefragt.
Auf dem Hof war mein Verschwinden inzwischen bemerkt worden.
„Wo ist der Junge?“
Alle Anwesenden suchten mich, im Haus, im Garten, in den Ställen, sogar im stinkenden Schweinstall, in der Werkstatt und in der Scheune. Der Junge war weg. Tante Gertrud fiel ein, dass das Tor einige Zeit offen war oder besser, der Kutscher Albert hatte es nach dem Passieren nicht geschlossen.
So verlagerte sich nun die Suche nach dem Jungen auf die Dorfstraße und die benachbarten Gehöfte: „Habt ihr unseren Jungen gesehen, mit den roten Hosen?“
Niemand hatte mich gesehen. Mutter war verzweifelt und schaute nun durch die Gärten auf die Wiesen und Felder, die das Dorf unmittelbar umgaben. Im letzten Moment, bevor ich in den Wald eintauchen wollte, erblickte sie mich an meinen roten Hosen.
Sie rannte in den Hof zurück, schnappte sich ein Fahrrad und eilte ihrem fast verschwundenen Jungen über die Feldwege hinterher. Sie wusste, was ich nicht wissen konnte, dass dort ein tiefer Wassergraben lauerte und ich darin womöglich ertrinken könnte. Mütter denken immer an die schlimmste aller Möglichkeiten. Völlig erschöpft stieg meine Mutter vom Fahrrad: „Was hast du dir diesmal ausgedacht, so weit auszubüxen, wenn ich dich nicht an den roten Hosen erkannt hätte, wärst du im Wald und die Wölfe hätten dich gefressen, geh nie wieder allein in den Wald!“
Die Drohung mit den Wölfen saß, obwohl es damals schon lange keine Wölfe mehr in Deutschland gab. Erst nach dem Jahr 2000 sind wieder Wölfe in Sachsen angesiedelt worden, die sich nun langsam in Mitteldeutschland ausbreiten.
Mutter setzte mich auf den Gepäckträger und schob das Fahrrad mit mir in Richtung Dorf. Im Hof angekommen, erhielt ich eine deutliche und wirksame Standpauke, nacheinander von allen Anwesenden, sogar von Onkel Paul. Die Erkundung der „Kohle“ mit der roten Hose blieb unvollendet.
Meine Eltern mit mir im Sommer 1943
Die Hundehütte
Jeder versierte Hundehalter wird empfehlen, die Hütte für einen Hund nur so groß zu bauen, dass der sich darin umdrehen kann. Die Hundehütte soll ja nur das Lager ersetzen. Die Hunde in den Bauerndörfern hatten nur eine Aufgabe, den Fremden zu verbellen, tags und nachts. Unsere Mika hatte die passende Hütte, ein rechteckiges Häuschen aus massiven Brettern mit Satteldach, dreiseitig geschlossenen und an der Vorderfront eine gerundete Öffnung als Zugang. Innen diente ein alter Sack als Lager. Mika lag ihr Leben lang an einer leichten Kette, die sie über den breiten Halsriemen mit der Hütte fest verbannt. Die Hütte stand im hinteren Teil des Hofes, noch hinter dem ordentlich geschichteten Misthaufen, der jeden Bauernhof markierte. Mika konnte mit der Kette einen Kreis von etwa fünf Metern ziehen. In diesem Kreis hatte niemand etwas zu suchen, es war ihr Reich, das sie bellend und sich böse gebärdend verteidigte.
Im letzten Winter war ich gerade vier Jahre alt geworden. Es war Zeit weitere Dinge zu erkunden. Ein warmer Frühlingstag. Mutter und Tante waren in der Scheune mit der Herstellung von Zuckersirup beschäftigt. In den Jahren nach dem furchtbaren Zweiten Weltkrieg war die aufwendige Eigenproduktion von nahezu allen Lebensmitteln zur eigenen Versorgung Überlebens notwendig. Die nicht selbst verbrauchten Lebensmittel kamen auf den Markt, damals nur Schwarzmarkt, das Revier von Onkel Ernst.
Mika und Tante Gertrud
Mir war immer und immer wieder eingebläut worden, meide den Umkreis der Hundehütte, Hunde sind böse und gefährlich, ja sie beißen sogar Menschen. Also Respekt vor den Hunden, besonders den fremden, aber auch den eigenen. Kein Wunder, dass diese Tiere aggressiv waren, ein Leben lang an der Kette. Diese Haltung würde man heute als Tierquälerei bezeichnen. Futter bekam die Hunde reichlich, nämlich die Reste des Mittagessens in einem tiefen Metallteller und in einem ausgedienten Kochtopf klares Trinkwasser.
Mich reizte es, Verbotenes zu tun.
„Geh nicht zu nah an den Hund, der beißt dich!“, sagte meine Mutter oft.
Es musste etwas Besonderes mit dem Hund sein, warum sollte er gerade mich beißen? Soweit ich wusste, hatte Mika noch niemanden gebissen, konnte aber böse bellen und ihr scharfes Gebiss fletschend zeigen.
Auf dem Hof war niemand zu sehen, Mutter und Tante in der Scheune stark beschäftigt. Ich kreiste um den Kettenradius des Hundes. Er bellte mich drohend an. Mein Ansprechen half, er wurde ruhiger, offensichtlich fand ich beim Kraulen die richtige Stelle, nämlich das Genick. Vorsichtig blieb ich auf einer gewissen Distanz, um vielleicht doch schnell genug aus dem Kettenkreis flüchten zu können. Aber wer hatte die Mika jemals gekrault, außer Tante Gertrud. Mika schien es zu gefallen, sie wurde friedlich und ich bewegte mich frei im Kettenkreis. Nun wurde ich noch kühner. Das Innere der Hütte interessiert mich.