Rika Sibyllin: Eine Reise außerhalb der Zeit/Leseprobe

Vorwort

 

An einem Frühlingstag, in irgendeinem Jahr vor einiger Zeit, lernte ich eine Frau meines Alters näher kennen. Wir begegneten uns zufällig und waren uns, was eher selten vorkommt, auf Anhieb sympathisch, was wohl auch an der Zeit lag, die wir gerade durchliefen. Daher beschlossen wir, uns öfters zu treffen.

Nach einer geraumen Weile, in der wir uns langsam einander annäherten, bat sie mich, ihr zuzuhören, was ich gerne tat. Sie erzählte mir viel aus ihrem Leben, auch aus ihrer Kindheit und aus ihrer Gedankenwelt, und im Laufe des Erzählens kamen wir uns näher. Ich ließ ihre Geschichte in mich hinein, es wurde meine Geschichte. Sie hatte zwei, wie sie sagte, wunderbare Kinder, einen Sohn und eine Tochter, und lebte mit der zerstörerischen Last, zu viele Fehler in ihrem Leben nicht erkannt zu haben. Sie wollte nun neue Wege einschlagen, wusste aber noch nicht, wie. Nun war sie etwas älter geworden und hatte beschlossen, sich auf eine Reise außerhalb der Zeit zu machen, um herauszufinden, was Leben war, was Traum und worin die Unterschiede bestanden und wollte sich endlich begegnen …

Und da trafen wir uns.

 

Erster Tag

 

Es begann alles damit, dass sie erwachte, wie jeden Morgen nach einem seichten Schlaf mit vielen Traumfetzen, ähnlich einem endlosen Puzzle, bei dem man die Teile immer wieder neu zusammensetzte und sie dennoch nie passten, die sie morgens in einem erschöpften Gefühl den Tag beginnen ließen. Sie erinnerte sich kaum, stand auf, nahm eine Dusche und wanderte durch das Nachterleben, während das heiße Wasser an ihr herunterrann. Warmer Regen, der auf ihrer Haut abperlte, während ihr nicht sofort klar war, wo sie sich befand. War ihr Traum zu ihrem Leben geworden? Träumte sie nun, sie stünde schlaftrunken unter einer Dusche, in irgendeinem Land auf dieser Erde, an irgendeinem weiteren Ort? Oder war es die Realität?

Eine eigenartige Beklemmung und eine aufgeregte Vorfreude waren die Gefühle, in denen sie sich seit Tagen hin und her bewegte. Es fiel ihr schwer, so zu sein, wie immer, so, wie die Menschen sie wahrnahmen, die sie nicht kannten. Sie fühlte eine Art Verschwindung, einen Zustand, dem sie scheinbar kraftlos gegenüberstand, der noch schwereloser erschien als das Verschwinden selbst.

Sie konnte sich nicht erinnern, wann sie zum letzten Mal solch bodenlose Einsamkeit verspürt hatte. Und auch hatte sie die Wahrnehmung, lange nicht so bewusst im Jetzt gelebt zu haben wie zurzeit. Jede Handlung wurde zu einem Ritual, intensiver als sonst betrachtete sie die Dinge, die um sie standen, eins werden mit fast allem, was sie dachte und tat. Als wäre es alles das letzte Mal. Das letzte Mal die letzten Rosen des Herbstes im Garten betrachten, das letzte Mal essen in ihrer Küche, das letzte Mal in ihrem eigenen Bett schlafen, das letzte Mal … Was war das? Würde sie denn sterben? Oder verließ sie den Ort, den sie ihr Zuhause nannte, nur, weil etwas schon gestorben war? Oder verließ sie ihn nur, um in einen anderen Traum zu gleiten?

„Denkst du, es ist auch eine Flucht?“, fragte ihre Tante sie gerade heraus.

Wie sie doch so etwas wusste – fühlte. Doch das war nur die eine Seite. Eine Pilgerreise wollte sie machen, ganz alleine sein, mit sich selbst als Reisebegleiterin. Durch nichts abgelenkt, nur im Erleben des Augenblicks und in den Verknüpfungen von Vergangenem und Zukünftigem.

 

Einige Tage vorher – es war eine der letzten lauen Septembernächte – legte sie die Schuhe ihres Vaters in eine Feuerschale, die Schuhe, die er trug, als er beschloss – oder auch nicht – das Leben hier in dieser Welt zu beenden. Seitdem standen die Schuhe wie ein letztes Relikt an einen Schrank gelehnt in ihrem Schlafzimmer. Verstaubt, abgelaufen, müde geworden, erinnerten sie sie jeden Tag an den Vater. Jetzt war der Zeitpunkt gekommen, diese Erinnerung zu beenden.

Es brauchte lange, bis sie verbrannt waren. Wildleder riecht nicht gut und brennt schlecht. Sie stand dabei und begleitete das kleiner Werden der Schuhe und fühlte, dass es gut war so. Ihr übermächtiger Vater, der über alles bestimmte und sie seine Enttäuschung über ihr Nicht-Funktionieren ein Leben lang fühlen ließ. Und der sie doch auch geliebt hatte, irgendwie. Fast immer hatte sie das Gefühl gehabt, er würde sie nicht ernstnehmen können, fast immer hatte sie das Gefühl, dass er sie auf seine sehr eigene Weise auch liebte.

Die Asche verstreute sie am Ende unter dem Holunderbaum, dem Baum, in dem die Ahnen wachten. Sie erzählte niemandem davon.

 

Das warme Wasser floss an ihr hinab, sie spürte es nicht wirklich. Es fühlte sich an, als stünde sie schon seit Ewigkeiten unter dem warmen Schauer.

Sie wollte vieles erledigt wissen, bevor sie ihre Reise antrat, von der sie nicht wusste, wohin. Es war so ein Gefühl, mehr nicht. Manchmal gab es nicht wirklich viele Möglichkeiten im Leben. Oftmals bildete man sich im Nachhinein ein, man hätte keine andere Möglichkeit gehabt, um so Entscheidungen rechtfertigen zu können. Aber stimmte das? Sollte man den eigenen Träumen, den Ideen, öfter vertrauen, ihnen folgen, den Mut haben, die eigenen Schritte zu gehen, ohne dafür jemanden zur Verantwortung zu ziehen? Diejenigen Schritte, von denen man schon lange wusste, dass sie zu gehen waren, waren auch die einzige Möglichkeit zu lernen, sich selbst vertrauen. Was machte es aus, ob die Menschen um sie herum etwas akzeptierten, ob sie es überhaupt verstanden? Ihr Entschluss stand lange fest.

Ganz alleine, nur mit sich selbst konfrontiert in einem völlig neuen Kontext mit der Welt sich selbst zu erleben, um sich vielleicht endlich kennen – und akzeptieren zu lernen und um Vergangenes besser zu begreifen. Daher die Reise, daher der Traum.

Viele Menschen entschließen sich zu einer Pilgerfahrt, wenn ein Schmerz zu groß wird, und machen sich mit ihren Hoffnungen und Sehnsüchten auf den Weg, um etwas zu finden, von dem sie noch nichts wissen. Man befindet sich auf einer nicht endenden Suche, sucht nach den Brücken, die man überqueren muss.

Boris Pasternak sagt: Wenn ein großer Augenblick an die Tür unseres Herzens klopft, ist das Geräusch oft nicht lauter als unser Herzschlag, und wir können es sehr leicht überhören.

 

Nachts lag sie meist lange wach, ließ das Fenster offen, sog die vertrauten Nachtgeräusche ein und betrachtete den Mond. Wo würde sie beim nächsten Vollmond schlafen? Warum geschah nicht etwas Wunderbares, jetzt sofort, das sie zurückhielt und ihr Leben wieder liebenswert machte, ihr ihre Überflüssigkeit nahm? Weggehen, um zu fehlen, was für eine irrige Motivation!

Sie schlief wieder ein, erwachte durch das Gezwitscher der Vögel und fühlte sich unendlich schwer. Was, wenn sie gar nicht verreisen würde, sondern stattdessen drei Monate in ihrem Bett bleiben und schlafen, sich verkriechen würde, ohne dass sie dort jemand vermutete? Weg sein und doch bleiben? Wurzeln behalten, um losfliegen zu können. Es blieb dabei.

 

Nächster Tag

 

Am Flughafen stieg sie aus dem Auto, verabschiedete sich und brannte innerlich vor Schmerzen, vor Sehnsucht nach irgendetwas, nach irgendjemandem, der sie jetzt sofort in den Arm nahm und zurückhielt. Doch sie spürte auch, welche Freude sie innerlich ganz warm machte und sich ausbreitete wie ein weiches, warmes Tuch. Sie stand in der Reihe der Passkontrolle und wurde Teil einer langen Schlange von Menschen, die aus den unterschiedlichsten Gründen verreisten. Ein kurzes Lächeln, einige belanglose Worte, Begegnungen und das Wissen, diese Menschen nie wieder zu sehen. Was hatte sie erwartet? Wohin wollte sie damit? Was beweisen? Und wem? Was erreichen? Immer wiederkehrende Gedanken, jemand sollte sich Sorgen machen um sie. Weil jemand sie liebte. Nicht jemand, nein: sie! Die Verloren-Gegangene, die sie so schmerzlich vermisste, deren Abhandenkommen sie zerfraß.

 

Ich möchte mich von dir verabschieden – so in einem Brief, als Grund nannte sie: Fesseln, Egoismus, nicht zu erfüllende Erwartungen.

Sie wusste nicht, von wem die Tochter sprach, sie erkannte sich in keinem dieser Punkte, so sehr sie suchte, verstand nichts und konnte nichts darauf antworten. Verstummte, verglühte, konnte sich selbst nicht mehr identifizieren. Auch ahnte sie, wusste sie, dass es ein großes Leid dort gab, ein Leid, an dem sie sich schuldig fühlte, schuldig, weil sie im entscheidenden Moment zu schwach war, sie zu schützen, sich bedingungslos vor sie zu stellen, zu schwach, um die richtigen Entscheidungen zu treffen, schuldig, weil Mütter immer schuld sind, wenn es dem Kind nicht gut geht, weil Mütter den Kindern das Leben geben, weil sie gebären und dadurch eine lebenslange Verantwortung tragen. Dieses riesige Leid, das die Tochter erdrückte, ihr den Atem zum Leben nahm, konnte sie ihr nicht abnehmen, durfte sie nicht teilen. Und wäre damit etwas besser? Geteiltes Leid ist halbes Leid. Stimmte das? Konnte man Leid teilen, und wenn ja, wie sollte das funktionieren? Sie fand keine anderen Ansätze, als den hilflosen Versuch, ihre Liebe in irgendeiner hilflosen Form von unverstandener Zuwendung zu zeigen, doch die blieb ohne Echo. Also war die Reise doch nur eine Flucht?

Aber sie spürte auch Abenteuerlust, Aufgeregtheit und die Frage, deren Antwort sie ja herausfinden wollte: Was schaffe ich alleine, wie komme ich mit mir alleine zurecht, welche neuen Möglichkeiten zu handeln werde ich erfahren? Und sie empfand diese unglaubliche Unabhängigkeit als großes Geschenk,

Was für ein berauschendes Gefühl, auf Menschen zu treffen, die sie noch nicht kannten, und zu erfahren, was noch alles möglich war in ihrem Leben. Wie ein weißes Blatt Papier, auf dem noch nichts geschrieben stand.

 

Pünktlich startete das Flugzeug, sie hob ab und überflog das ihr Vertraute, ein letzter Blick nach unten, wann sie zurückkehren würde war ungewiss, wie so vieles in ihrem Leben.

Einige unmerkliche Stunden später schon landete sie auf ihrem Weg nach Beirut in Istanbul. Der neue Flughafen mit sieben Terminals, fünfhundertsiebzig Check-in-Schaltern und zweihundertachtundzwanzig Passkontrollstellen war das neue Mega-Drehkreuz zwischen Europa, Asien und Afrika. Sie wandelte wie in Trance zwischen den Geschäften und Restaurants hin und her, lief gefühlte Kilometer im Klangrausch der einzelnen Ansagen und Gongs. Städtenamen flimmerten über die Anzeigentafel und verschwanden wieder, als wären sie ab jetzt nicht mehr zu erreichen. Wohin denn überhaupt? Warum denn nach Beirut? Dann weiter zum nächsten Gate. Sie saß und hatte das Gefühl, sie würde dort auf ihre Zukunft warten, warten, dass sie auf einer Anzeigetafel erschien – diese Zukunft, von der sie nichts wusste, außer, dass sie kommen würde. Gate 113, letzter Aufruf für die Zukunft von Mrs. However! Please come immediately to the informationdesk – it´s your boardingtime now. Please hurry up!

 

Warum glaubte sie denn überhaupt, nach Beirut zu müssen? Sie hörte den Aufruf zu Gate 57 nach Ouagadougou. Warum nicht dorthin? Noch nie hatte sie von dieser Stadt gehört. Wie kam das, dass es Städte gab, die niemand kannte und in die Flugzeuge Menschen brachten? Was machten Menschen in Städten, die keiner kannte? Wie lebten sie? Was dachten sie in diesen Städten? Geträumte Städte, die man erfinden konnte, während man morgens unter der Dusche stand und versuchte, eins zu werden mit den Traumfetzen der vergangenen Nacht.

Sie las nach: Ougadougou wird Wagadugu ausgesprochen und ist die Hauptstadt von Burkina Faso. Die Straßen dort sind rechtwinklig angelegt, in der Mitte der Stadt ist ein Fluss. Es gibt einen Bahnhof, von dort fahren zwei Züge wöchentlich nach Abidjan in der Elfenbeinküste. Jeden Freitag ab sieben Uhr findet vor dem Palast des Moro-Naba, König des traditionellen Reiches Wogodogo, eine halbstündige Zeremonie statt, bei der seine Minister den Herrscher symbolisch davon abhalten, Krieg zu führen.

Moro-Naba stellte sie sich vor als einen schweigsamen, großgewachsenen König, der sich nur selten seinem Volk zeigte, wenig über die Menschen wusste, aber unsterblich war und seit Generationen verehrt wurde. An den Freitagen wurden alle Palasttüren mit endlosen Mengen von Opfergaben überschüttet, die Früchte, das Gebäck und die Getränke, die wundersame Illusionen erzeugten, all das quoll aus den Pforten der Paläste, um den Unsterblichen gütig zu stimmen.

Sie spazierte durch die Dutyfree-Shops, klaute eine Schachtel Zigaretten und schlenderte möglichst unauffällig weiter, saß in einem der zahllosen Flughafenrestaurants und trank zur Zigarette einen türkischen Mokka, zahlte mit Karte, da man dort nur türkische Lira nahm, betrachtete die Läden, die Trikots des Vereins Istanbul Galatasaray verkauften, oder luxuriöse Hemden und Jacken, Schmuck und Parfums, alles, was man überall bekam und nicht brauchte. Sie beobachtete die Menschen aus den unterschiedlichsten Teilen der Erde um sie herum, die eilten oder standen, laut redeten, schrien oder schweigend um sich blickten, müde, wichtig, verloren. Menschen in Kaftans oder modernen Kostümen, Miniröcken oder Militärkleidung, Frauen aus fernen afrikanischen Ländern, die in farbenprächtigen Gewändern ihre Hüften durch die Gänge tanzen ließen, und verklemmt wirkende Einzelgänger mit Aktentaschen oder einem kleinen Rollköfferchen, die zwischen allen hindurch hasteten. Was all diese Menschen wohl gerade hier machten? Wohin sie flogen und warum? Waren sie auf der Flucht oder auf der Suche nach einem Abenteuer, einem neuen Leben? Reisten sie alleine oder wurden sie erwartet?

Irgendwann stieg sie in ein Flugzeug und flog weiter, weiter weg von dort, wo sie herkam, aber nicht unbedingt näher dorthin, wohin sie musste. Weggehen, Ankommen, dazwischen Leere. Reisen, um immer wieder nur anzukommen. Sonst nichts. Ist das so, wenn man stirbt? Gab es diesen Leerraum, bevor man an einem neuen Ort vielleicht zu neuem Leben erwachte?

Die Stewardessen trugen tiefblaue Kostüme und ebensolche Häubchen, die wiederum einen hellblauen Schal festhielten, der lose um den Kopf geworfen war. Sie lieferten orientalische Häppchen und Tee, erklärten die Sicherheitsregeln auf Arabisch und Englisch und lächelten, wie alle Stewardessen immerzu lächeln.

Ihr Nachbar war dick, zu dick für einen Platz, sodass die Armlehne für sie tabu war, sprich, nicht zu sehen, besetzt. Er trank den Tee und dann begann er zu schnarchen. Sie sah aus dem Fenster in die Nacht hinaus, sah in der Ferne andere Flugzeuge blinken, mit anderen Menschen, die in die entgegengesetzte Richtung flogen, und hatte plötzlich den Eindruck, die ganze Menschheit würde von hier nach dort hasten, aneinander vorbei, ohne sich zu kennen. Und irgendwann blinkten in der Ferne die Lichter einer großen Stadt und noch einige Zeit später setzten sie zur Landung in Beirut an. Sie hatte das Gefühl, Teil eines endlosen Traumes zu sein, der gerade erst begonnen hatte und doch schon so lange zu dauern schien.

Es war bereits tiefe Nacht, als sie durch die Passkontrolle ging, ein Visum erhielt für dreißig Tage und sich mit einem Taxi zum Hotel bringen ließ. Müde, glücklich, angekommen zu sein, fürs erste. Die Reise hatte also tatsächlich begonnen, obwohl eine Reise eigentlich nicht erst beginnt, wenn man sich auf den Weg zum Flugplatz macht – nein, sie beginnt sehr viel früher. Sie beginnt mit dem ersten Gedanken daran und sie endet auch nicht, wenn man wieder zu Hause ist, denn in der Erinnerung bleibt sie lebendig, präsent, in unserem Inneren lebt sie weiter und wird immer wieder wirksam sein. Im besten Falle endet sie nie. Denn die Zeit selbst, die in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft aufgeteilt wird, ist vergänglich. Und das eigenartige ist, dass die Gegenwart, obwohl sie am kürzesten währt, immerwährend ist. Auch die Erlebnisse des Lebens sind vergänglich, können verschwinden, aber sie können sich auch verwandeln. Das mag gut oder auch manchmal schlecht sein, doch die Zeit birgt in sich die Möglichkeit, zu bewahren, zu verändern. Aber auch das nur ein Gedanke am Rande.