Michaela Rothe: Ich zu Ich/Leseprobe

DIE SUCHENDE JUGEND

Sie saß mir gegenüber, als ich während der Mittagspause im Café am Main ein Buch las.

Sie sind bestimmt in einem behüteten Elternhaus aufgewachsen“, sagte sie unvermittelt und blickte von ihrem Handy hoch.

Wie kommen Sie darauf?“

Es ist die Art, wie Sie aussehen, wie Sie sich verhalten, wie Sie sprechen. Ich kenne Sie vom Sehen. Sie kommen öfters hierher. Alleine oder mit Freunden. Habe ich nicht recht?“

Sie musterte mich von Kopf bis Fuß und fuhr fort: „Sie beobachten viel. Sie sind bei sich angekommen, Sie strahlen Zufriedenheit aus. Sie lachen viel, und wenn Sie sich unterhalten, hören Ihnen alle aufmerksam zu.“

Das tun sie, weil sie meine Schüler sind“, schmunzelte ich.

Zumindest sind Sie keine Suchende“, ließ sie sich nicht irritieren. „Sie scheinen zu wissen, wer Sie sind und was Sie wollen“, sie blickte schnell auf ihr Handy und dann schaute sie mich wieder an. „Sie haben bestimmt einen Mann, Kinder und lieben Ihren Beruf. Sie haben viele Freunde und sind glücklich.“

Ist es so, wenn man in einem behüteten Elternhaus aufgewachsen ist?“

Es gibt einem Orientierung. Wenn Eltern einem Kind, später einem Jugendlichen Vorbilder waren, ihm den Weg gezeigt haben, muss es sich nicht abquälen, das ganze Leben lang danach zu suchen.“

Das heißt, Sie suchen?“

Nicht nur ich. Schauen Sie sich meine Generation an! Alles löst sich gerade auf. Alte Normen und Werte verlieren die Gültigkeit! Wenn ich keine Lust habe mich als Frau zu kleiden, dann kleide ich mich eben wie ein Mann. Oder umgekehrt.“

Oh, ich verstehe. Sie meinen den Mann, der geschminkt, mit langem Bart und im Frauenkleid den Wettbewerb im Singen gewann?“

Das ist nicht das einzige Beispiel. Wenn ich mich morgen entscheide, eine Frau zu lieben, wen kümmert es? Wenn zwei Männer ein Kind gemeinsam erziehen, wen interessiert es? Wenn ich beschließe, mein Sexualleben mit meinem Kühlschrank zu treiben, auch egal, alles ist erlaubt!“

Sie übertreiben!“ Wir lachten.

Jetzt erklären Sie mir bitte, wonach Sie suchen.“

Na ja, das ist doch klar! Nach meiner eigenen Identität! Wer bin ich? Weswegen bin ich da? Ich weiß, ich weiß. Ich bekomme jeden Tag vermittelt, wer ich bin. Der Abschluss macht´s. Deswegen tun sich viele das Martyrium namens Studium an. Um den Status zu erlangen. Wissen Sie, wie Studenten das Studium nennen? Bulimie. Erst alles in sich reinfressen und dann wieder rauskotzen. Und dann geht das Diktat der Gesellschaft weiter. Welchen Mann, mit welchem Status und mit welchem Auto ich an meiner Seite haben soll. Ja, sogar wie ich aussehen soll, wie ich mich kleiden soll. Trage ich wertvolle, maßgeschnittene Kleider und handgemachte Schuhe, werde ich wie ein König behandelt. Trage ich billige Qualität aus der Massenproduktion der Verkaufsketten, werde ich minderwertig angesehen. Das habe ich doch alles längst gecheckt. Medien zeigen mir, wie meine Zähne, Nase und mein Lachen aussehen sollen, mit welchen Produkten ich mich pflegen und umgeben soll, wo ich den Urlaub verbringen, was ich essen soll. Und wie ich denken und sprechen soll. Wir sind doch völlig fremdgesteuert!“

Das liegt daran, dass wir der Werbung mehr glauben, als uns selbst. Wir glauben nicht unseren Gefühlen, unseren Gedanken, unseren Worten.“

Deswegen suchen wir außen? Und die meisten wissen nichts davon, sonst würden sie sich nicht ununterbrochen im Internet posten. Wie sie wohnen, was sie tun, mit wem, wann, wo? Hinter diese Selbstdarstellung versteckt sich doch nur der verzweifelte Schrei: Sehe mich an! Ich bin auch da! Ich möchte dazugehören! Oder die Zunahme der extremen Sportarten. Der Kick ist es, sich an den letzten S-Bahn-Waggon zu hängen und einmal die Strecke fahren. Wenn man dabei ums Leben kommt? Wenigstens dann sind alle Augen auf mich gerichtet! Ich habe die Aufmerksamkeit!“

Wir müssen nichts außerhalb von uns suchen. Es ist alles in uns vorhanden.“

Wie komme ich zu mir?“

In dem Sie sich bewusst machen, wer Sie wirklich sind.“

Wer bin ich?“

LIEBE LESERIN, LIEBER LESER

Damals als ich das Gespräch führte, wusste ich die Antwort nicht. Heute weiß ich, wer ich bin! Ich bin ich selbst!

Bei dem Prozess der Entwicklung zu meinem wahren Selbst haben mich meine Schüler, Studierende begleitet, die ich in den letzten Jahren an den Fachschulen für Sozialpädagogik in Frankfurt, Offenbach und Coburg unterrichtet habe. Es waren angehende Sozialassistenten, Kinderpfleger, Erzieher, Erwachsene im Alter zwischen 17 und 55 Jahren. Sie kamen aus allen Teilen der Welt. Sie alle haben mein Leben verändert! Dank ihnen weiß ich, wer ich bin! Sie haben mir beigebracht, Gott, die Quelle allen Seins, in mir und in jedem einzelnen Menschen zu sehen, zu achten und vor allem zu lieben. Sich selbst zu lieben, sowie die ganze Schöpfung, die uns umgibt.

Seit ein paar Monaten bin ich damit beschäftigt, dieses Buch zu schreiben. Für Sie! Für alle Menschen! Egal aus welchem Land sie sind, unabhängig von Kultur, Religion, Bildung, Status, Alter und Geschlecht. Ich habe für alle eine wunderbare, fröhliche Botschaft. Wir leben in einer einzigartigen Zeit. In einer Zeit der großen Veränderung. Ein altes Lebensmodell geht zu Ende und ein neues Lebensmodell entsteht. Auf allen Ebenen des Seins. Normen, Werte, Religionen, Kulturen, politische Systeme, die Wirtschaft sind im Umbruch. Die ganze Welt macht einen Evolutionssprung! Wir gehen alle den Weg von der Trennung in die Einheit. In die vollkommene Integration. Die Menschheit erwacht.

Die zunehmende Veränderung spiegelt sich weltweit in der jungen Generation. Sie fordert immer mehr Transparenz. Sie hat den Mut, das Bestehende zu hinterfragen und auch nein zu sagen. Sie kommuniziert Themen, die unendlich lange Zeit als tabu galten. Sie stellt Fragen wie: Wozu ist es gut? Ist es nützlich für alle? Ist es im Einklang mit der Natur? Diese Generation macht sich auf die Suche nach neuen Richtungen und Lösungen. Sie stellt Frauen und Männer gleich. Sei es in der Erziehung des Nachwuchses, in der Beziehung oder im Beruf. Sie fragt nicht nach Alter oder Nationalität. Sie ernährt sich bewusster, sie beschäftigt sich mit der Umwelt, sie sucht nach Alternativen in allen Lebensbereichen. Sie sehnt sich nach Qualität, Schönheit, Ästhetik. Sie ist dabei, jeden Menschen in die Gemeinschaft zu integrieren. Sie spricht offen von Spiritualität. Und sie holt in den Alltag Wahrheit und Liebe zurück. Hiermit möchte ich mit Ihnen meine Erfahrungen mit diesen wunderbaren jungen Menschen teilen.

INTEGRATION

Ich bin vor gut einem Vierteljahrhundert aus Tschechien nach Deutschland, Frankfurt am Main gekommen. In eine Stadt, in der laut Statistik (Stadt Frankfurt 2014), 178 Nationalitäten miteinander leben. Ich bin durch alle Schichten der Gesellschaft gegangen. Ich bin verschiedenen Kulturen und Nationalitäten begegnet. Ich habe die Schule besucht, Ausbildung, Studium und Weiterbildungen absolviert. Ich habe die unterschiedlichsten Tätigkeiten ausgeübt, von Putzfrau und Kellnerin über Pflegerin und Erzieherin bis zu Lehrerin und Dozentin.

In den mehr als fünfundzwanzig Jahren, die ich in Deutschland lebe, habe ich festgestellt, dass die gängige Vorstellung von Integration sich wie folgt zusammenfassen lässt: Lern die Sprache und arbeite! Dann bist du integriert! Das Wort Integration war für mich anfangs neu. Ich schaute im Duden nach, was das Wort bedeutet:

1. (bildungssprachlich) /Wieder/herstellung einer Einheit, (aus Differenziertem) Vervollständigung

2. (bildungssprachlich) Einbeziehung, Eingliederung in ein größeres Ganzes

3. (Soziologie) Verbindung einer Vielheit von einzelnen Personen oder Gruppen zu einer gesellschaftlichen und kulturellen Einheit

Damals glaubte ich fest daran. Ich wusste nicht, dass Integration etwas ganz anderes ausmacht, was sich mir erst viele Jahre später offenbarte. Ich dachte: Wenn ich diese zwei Kriterien erfülle, bin ich integriert und gehöre dazu.

Also fing ich erst mit der Sprache und dann mit der Arbeit an.

Schon in der Schule in Tschechien lernte ich außer Tschechisch auch Russisch und Deutsch. Ich fuhr in den Sommerferien als Austauschschülerin ins damalige Ostdeutschland. Als ich das erste Mal die Ostsee sah, kamen mir die Tränen. Mir war so warm ums Herz als wäre ich nach Hause gekommen. Die Landschaft, die Häuser, die Menschen und die Sprache – es war alles so vertraut. Ich liebte mit meinem ganzen Wesen diese Sprache und dieses Land!

Als ich das Abitur in der tschechischen und russischen Sprache abgelegt hatte, zog ich von Mähren, einem Teil in Tschechien, nach Prag. Das war im Jahr 1987. Ich arbeitete im Kinder- und Jugendbereich, um die Zeit bis zum Studium zu überbrücken. Ich bekam für den Studienplatz eine Absage, meine Eltern waren keine Parteimitglieder.

Innerhalb von zwei Jahren spitzte sich die politische Lage in Tschechien zu. Es gab Proteste gegen die Regierung. Studenten gingen auf die Straße. Diese jungen Menschen zeigten Mut und Wille, das Bestehende zu ändern. Sie fanden Unterstützung bei den Künstlern, welche durch das Land reisten und die Bevölkerung über die Ereignisse in der Hauptstadt informierten. Denn die Medien, Fernsehen und Rundfunk, schwiegen darüber.

Von meinem Arbeitgeber wurde ich aufgefordert, die Hauptstadt am Wochenende zu verlassen und nicht zu den erwarteten Demonstrationen zu gehen.

Zu meiner Sicherheit. Um nicht in die politischen Unruhen zu geraten“, hieß es.

Im ganzen Land vernahm ich eine angespannte Stimmung. Kommt es zum Krieg? Ein Arbeitskollege erklärte mir, dass sich höchstwahrscheinlich die Geschichte aus dem Jahr 1968 wiederholen würde. Auch damals gab es die Tendenz, die kommunistische Regierung abzusetzen, jedoch ohne Erfolg. Wie es diesmal ausgehen würde, stand noch in den Sternen. Er bevorzugte, das Land zu verlassen. Ob ich Lust hätte, mitzufahren? Ich willigte ein.

Wir sprachen beide deutsch, also sind wir über Ost-Berlin nach West-Berlin geflüchtet.