Laura B., Brian S., Sophie M., Paul M.: Ankommen/Leseprobe

  1. Einleitung

 

Forrest Gumps Mama sagte: ,,Das Leben ist wie eine Schachtel voller Pralinen, man weiß nie, was man bekommt.“

Vielleicht ist es bei dir Krebs, ein Herzfehler deines Bruders, der Verlust deines Kindes, das Alzheimer deiner Mutter, ein Unfall, der dich zwingt, mit deinem Hobby aufzuhören, eine Autoimmunerkrankung deines besten Freundes, die Magersucht deiner besten Freundin oder der plötzliche Verlust eines geliebten Menschen.

 

Hören und Sehen, das bekommt man schon irgendwie hin, auch wenn man Handicaps hat. Aber zu leben, das haben wir gelernt, kann ganz plötzlich verdammt schwer und nicht mehr selbstverständlich werden. Zum Teil mussten wir von Grund auf wieder lernen, zu leben und einen neuen Weg zu gehen. Und das tun wir immer noch jeden Tag, doch so langsam sind wir dabei, im Leben anzukommen. Der Titel ´Ankommen´ beschreibt unseren jetzigen Lebensstatus als junge Erwachsene auf ihrem Weg ins Leben, die zusätzlich mit einer Hör- und Seheinschränkung den Alltag bestreiten.

 

Uns war es für dieses Projekt sehr wichtig, die vielen verschiedenen Seiten unserer Wege dazustellen, aber auch die Perspektiven unseres Umfeldes aufzunehmen.

Fragen wie: ´Welche Wechselwirkungen gibt es innerhalb der Familien aufgrund der Erkrankung? Wie reagieren die Geschwister auf die Erkrankung? Wie wird die Krankheit durch die Eltern an das erkrankte Kind getragen?´, werden – teils unterschiedlich – beantwortet und begründet.

Jeder macht sich auf seine eigene Art und Weise Gedanken.

 

An dieser Stelle möchten wir unseren Familien und Freunden danken, die mit ihren offenen, ehrlichen und sehr persönlichen Berichten einen wichtigen Teil zu diesem Buch beigetragen haben. Denn eine Krankheit betrifft oft nicht nur die betroffene Person selbst, sondern ihr gesamtes Umfeld.

  1. Hauptteil

 

  1. Hören und Sehen – die Hintergründe des Usher-Syndroms

 

Das Usher-Syndrom ist eine autosomal-rezessiv vererbte Erkrankung und mit zirka 3 bis 6 Betroffenen unter 100.00 Einwohnern in der europäischen Gesamtbevölkerung die häufigste Form angeborener Taubblindheit des Menschen.

Es ist benannt nach dem britischen Augenarzt Charles Usher, der 1914 die Vererbung dieser Erkrankung beschrieb.

Der Verlauf der Krankheit wird als mittel- bis hochgradige Innenohrschwerhörigkeit oder Gehörlosigkeit von Geburt an, verbunden mit einem später einsetzenden, fortschreitenden Sehverlust (RP: Retinopathia Pigmentosa) beschrieben.

Verschiedene Krankheitsbilder des Usher-Syndroms:

USH1: Angeborene Gehörlosigkeit, mit im Kindesalter beginnender RP, in vielen Fällen Gleichgewichtsstörungen.

USH2: Unterschiedlich ausgeprägte (mittel- bis hochgradig) relativ konstant bleibende Schwerhörigkeit, in der Pubertät einsetzende RP.

USH3: Fortschreitender Hörverlust im späteren Erwachsenenalter (postlingual), zum ähnlichen Zeitpunkt einsetzende RP.

 

Der Sehverlust wird durch die sogenannte Retinopathia Pigmentosa (RP – früher Retinitis pigmentosa) verursacht und beginnt im äußeren Bereich. Die stäbchenförmigen Sehzellen (zuständig für Hell-Dunkel-Sehen) sterben ab. Dies hat zur Folge, dass Betroffene nachtblind werden. Im weiteren Verlauf verengt sich das Gesichtsfeld zu einem Tunnelblick, das Farbsehen lässt nach und es tritt eine gesteigerte Blendungsempfindlichkeit auf. Die Sehschärfe bleibt relativ lange erhalten. Der Sehverlust ist häufig schleichend, individuell unterschiedlich und kann bis zur Erblindung führen.

Die vorhandene Hörbeeinträchtigung (Taubheit oder mittel- bis hochgradige Innenohrschwerhörigkeit) wird im Wesentlichen durch eine Schädigung der Haarzellen in der Innenohr-Schnecke verursacht.

 

Ursache für die unterschiedlichen Subtypen der Krankheit sind mehrere unabhängige Loci auf verschiedenen Chromosomen, in denen das Usher-Syndrom verursachende Gendefekte entdeckt wurden.

Das Usher-Syndrom kommt im Vergleich zur reinen RP selten vor. Dies erklärt sich aus dem autosomal-rezessiven Erbgang.

Die Eltern können nur Anlagenträger sein, besitzen nur ein Chromosom mit Defekt und sind somit nicht selber erkrankt. Die Wahrscheinlichkeit, dass das Kind von beiden Eltern die Anlage weitervererbt bekommt, liegt bei 25% (also bei einem von vier Kindern). Erst wenn auf beiden Chromosomen der Defekt vorliegt, liegt das Usher-Syndrom ausgeprägt vor.

Defekte Genorte sind die Hauptindizien für die Kombination aus Netzhautdegeneration und Innenohrschwerhörigkeit. Der Verlauf der Krankheit wird allerdings auch von sogenannten Hintergrundgenen (= also keine Usher-Gene), Umwelteinflüssen und psychischen Faktoren beeinflusst.

Durch die Forschung werden immer mehr Ursachen für das Usher-Syndrom aufgedeckt, sodass die Krankheit besser diagnostiziert werden kann. So werden auch Therapieversuche denkbar.

 

  1. Leben – Geschichten aus dem Leben

 

Magdalene, Mutter von Laura – über schlaflose Nächte und Stolz

 

Die Geburt unserer Tochter Laura war ein großes Geschenk für uns. Die Freude, sie heranwachsen zu sehen, erfüllte mich täglich mit Glück und Dankbarkeit.

Ihre notwendige Versorgung mit Hörgeräten im Alter von 3,5 Jahren war zunächst ein großer Schock. Wir unterstützten und förderten ihre Entwicklung nach besten Kräften und Möglichkeiten (externe Einzelförderung in der Vorschulzeit, tägliche Fahrt zu einem entfernter liegenden Kindergarten, Vorlesen, Sprechübungen, Logopädie).

Es erfüllte uns mit Stolz und Zuversicht, zu sehen, wie schnell sie ihr Hör- und Sprachdefizit ausgleichen konnte und ihre Entfaltungsmöglichkeiten fast so gut wie die der normal hörenden Kinder waren.

Erste Sehprobleme bei einer Nachtwanderung auf einer Geburtstagsfeier führten mich mit ihr erstmalig zum Augenarzt. Dieser äußerte den Verdacht des Usher-Syndroms und verwies uns in die Universitäts-Augenklinik der LMU München.

Mein Verdacht, dass die vorläufige Diagnose zutreffen könnte, erhärtete sich bereits bei der Internet-Recherche nach dem Augenarztbesuch. Alle Indikatoren für ihre Erkrankung trafen zu. Schlaflose, gedankenvolle Nächte und eine große innere Traurigkeit folgten.

Mit der Bestätigung der Diagnose, sprach ich häufiger mit Laura. Mein Ziel war ganz klar: Ich wollte ihr Mut machen und Zuversicht vermitteln, vor allem aber das Vertrauen auf ihre Fähigkeiten und ihr Können stärken. Ebenso wollte ich ihr zeigen, dass es für mich keinen Unterschied in der Zuneigung zu ihr machte, im Gegenteil, sie sollte spüren, dass sie so wie sie ist, richtig und gut ist.

Unsere Familie ging offen und selbstverständlich mit der neuen Situation um. Hilfe geben, wenn sie nötig war, aber mit einer gesunden Normalität und Leichtigkeit im Alltag.

Ich ging pragmatisch und offen mit ihrer Erkrankung um. Es war nicht zu ändern und es gab noch keine Therapie.

Lauras persönlichen Umgang mit ihrer Einschränkung fand ich bewundernswert und er erstaunte mich immer wieder aufs Neue. Ich war sehr froh darüber und auch stolz, wie sie sich arrangierte und mit Beharrlichkeit und einer positiven, zuversichtlichen Grundstimmung ihre Schul- und Jugendzeit durchlief. Sie wusste immer, was sie wollte, und fand so ihren eigenen Weg.

Mit der Familie und Freunden redete ich offen darüber. Die Erkrankung war da und ließ sich nicht leugnen, war aber kein Grund, Laura anders zu behandeln. Ich wollte für sie Normalität ohne Bedauern. Fragen danach, wie es Laura geht, konnte ich immer mit Leichtigkeit beantworten. „Laura geht wunderbar damit um. Sie findet ihren eigenen Weg.“

Mir gefällt es sehr, wie es ihr gelingt, mit einer Selbstverständlichkeit mit ihrer Beeinträchtigung umzugehen und diese Kompromisslosigkeit zur Normalität einzufordern. Sie zeigt deutlich, wann ihr Hilfsangebote zu viel oder unnötig erscheinen.

 

Was hat sich bei meiner Einstellung als Mutter verändert?

Meine Grundhaltung ist gleich geblieben. Ich wünsche mir für meine Tochter, dass sie das tut, was sie für richtig hält und Hilfe annimmt, wenn sie sie braucht. Dabei möchte ich sie unterstützen, so gut ich das kann.

 

Stefan, Vater von Laura – über Hilflosigkeit und Initiative

 

Ich bin Lauras Vater, streng genommen natürlich nur Lauras Stiefvater. Laura lernte ich kennen, da war sie fünf Jahre alt.

Laura hatte Hörgeräte an beiden Ohren. Wenn sie die Hörgeräte ablegte, war sie ungestört in ihrer Welt. So etwas kannte ich nicht. Ungewohnt, mit jemanden zusammen zu leben, der so ein elementares Handicap hat.

Neben den Hörgeräten gab es Hilfsmittel, wie zum Beispiel ein Mikrofon für den Lehrer (oder im Skikurs für den Skilehrer). Der Ton kam dann per Funkübertragung direkt an ihr Ohr.

Laura wollte all dies nicht. Sie wollte ganz normal sein und leben. Und das machte sie wunderbar. Die Haare über den Ohren wussten viele im Umfeld nichts von ihrer Hörschädigung. So vergingen die Jahre und ihre Hör-geräte gehörten zum normalen Alltag. Und dann, in der beginnenden Pubertät, die Diagnose: Usher-Syndrom. Neben dem Hör-Handicap, welches konstant bleiben sollte, nun die Prognose der zusätzlichen Sehbeeinträchtigung, mit der Möglichkeit der schubweisen Verschlechterung bis zur vollständigen Erblindung – unfassbar, Hilflosigkeit, Schock!

Die Vorstellung für einen gesunden Menschen wie mich, auf die aus meiner Sicht zwei wichtigsten Sinne fast oder vollständig verzichten zu müssen – unvorstellbar! Zu was kann das führen? Zu vollständiger Isolation? Ist so jemals ein eigenständiges Leben führbar? Was macht das mit einem so jungen Menschen wie Laura? Wenn für mich, als nur Angehörigen, die Vorstellung der Usher-Prognose schon fürchterlich ist, wie muss sich Laura dann als Betroffene fühlen?

Laura hat mir und uns dann gezeigt, wie man damit umgeht. Sie war es gewohnt, mit einer starken Beeinträchtigung zu leben. Sie hatte eigene Mechanismen entwickelt und auch entdeckt, dass andere Sinne bei ihr stärker ausgebildet sind, zum Beispiel ihr Geruchssinn. Und zu Beginn war es ja die Diagnose, die so schwer anzunehmen war; die tatsächliche Beeinträchtigung hielt sich ja in Grenzen. Und so gingen die Aktivitäten vornehmlich in die Richtung der Auslotung von Behandlungs- oder Heilungsmöglichkeiten, das Erlernen von möglichen Hilfen für später, zum Beispiel ein Zehnfingerkurs im Maschinenschreiben und Querflötenunterricht.

Ich sprach auch mit vielen Anderen. Das hatte mir schon bei einem anderen Schicksalsschlag geholfen damit umzugehen. Ich erlebte Betroffenheit, aber auch sehr Mut machende Reaktionen und Informationen.

Mit der Zeit war dann die Krankheit zwar präsent, aber nicht im täglichen Fokus. Laura entwickelte sich wunderbar. Sie suchte und fand ihre Rolle in unserer Patchworkfamilie, sie lernte gerne und war eine herrlich unkomplizierte Schülerin, sie musizierte und war sportlich nicht nur sehr engagiert, sondern auch überaus erfolgreich. Im Kunstturnen brachte sie es zu fantastischen Ergebnissen in unzähligen Wettkämpfen, weit über unsere Region hinaus.

 

Nun sind wieder über zehn Jahre vergangen und Laura wird 24. Ihre Beeinträchtigungen meistert sie unglaublich toll! Sind die Hörgeräte gerade ausgeschaltet, kommt nur ein nettes: „Warte kurz!“ Ist es dunkel oder dämmrig sucht sie ganz unaufgeregt den Arm, von dem sie sich dann leiten lässt. Stößt sie gegen etwas in ihrem Weg, kommt nur ein leises Fluchen, wenn überhaupt.

Im täglichen Leben spielt Lauras Krankheit bei uns keine Rolle – das ist einzig und allein ihr Verdienst, ihre Art damit umzugehen.

Laura verdrängt aber nicht. Sie setzt sich engagiert für die Unterstützung der Forscher ein, die sich mit Usher beschäftigen. Sie hat eine eigene Website hierzu und sammelt Spendengelder ein.

 

Keiner von uns weiß, wie der weitere Verlauf bei Laura sein wird. Doch so wie Laura diese Herausforderung in ihrem Leben angegangen ist und gemeistert hat, ist mir nicht bange um ihre Zukunft! Ich freue mich, Teil davon zu sein.