Gert Hellerich: Die Liebe zum Leben/Leseprobe

Vorwort

Es ist ein immer wieder zu beobachtendes Phänomen, dass nicht wenige Rentner nach Dekaden der Arbeit, bei welcher sie oktroyiert bekamen, welche Aufgaben sie zu verrichten, beziehungsweise welche Funktionen sie auszuüben hatten, also immer in ihrem Arbeitsleben von außen bestimmt und reguliert wurden, sie nunmehr im Rentenalter anscheinend Schwierigkeiten haben, die ihnen gewährte Freiheit, die eine Freiheit von den Arbeitszwängen einleitet und als eine Freiheit zu eigenem Tun, zur Ich-Verwirklichung und zur Selbstbefriedigung genutzt werden könnte, nicht so empfinden. Nicht wenige Rentner/innen haben Probleme damit, selbstbestimmt ihren Alltag im Alter zu gestalten oder dem gegenwärtig humanistischen und ökologischen Anspruch, autopoetisch zu leben, gerecht zu werden. Auf sich gestellt, ohne Vorgaben von außen können viele Rentner/innen einfach wenig mit sich selbst anfangen, weil sie über Jahrzehnte hinweg fremdbestimmt wurden und ständig Anweisungen Folge leisteten. Das Rentenalter gewährt ihnen nun Freiheiten von beruflichen Zwängen hin zu Selbstbestimmungsmöglichkeiten, doch etliche alte Menschen scheinen mit dem Rückzug aus dem Arbeitsleben in ein Loch gefallen zu sein. Statt voller Freude und Zuversicht in die Zukunft zu schauen und sich die Frage zu stellen, welche interessante Tätigkeiten sie als Rentner/innen noch verrichten können, ist der Lebenswille nicht länger aktiv und formgebend. Der Wille zum Schaffen erlahmt allmählich, wenn die Menschen das Rentenalter erreicht haben. Die Kulturindustrie schafft für sie Unterhaltung, Zerstreuung und Zeitvertreib und stellt als manipulative Instanz ein bestimmtes Bewusstsein und systemimmanente Bedürfnisse her, die bei ihnen die zuvor in der Arbeitswelt erfahrene Unterwürfigkeitshaltung fortsetzt. Zumeist laufen dann Unterhaltungssendungen, die sie über Fernsehersender oder über das Internet empfangen. Ihr Lebensalltag bleibt Teil einer konsumtiven Kultur, in welcher sie, wie während ihrer Berufszeit, zumeist reaktiv und passiv bleiben, wobei die mögliche selbstbestimmte und produktive Orientierung verloren geht. Ist es nicht gerade dieses gestaltende Element, was den Rentner/innen sinnstiftende Lichtungen in ihrem Alltagsleben verschaffen könnte?

Viele ältere Menschen sehen keine eigenen Gestaltungsmöglichkeiten mehr im Alter. Es stellt sich bei ihnen eine dumpfe Resignation ein, die sich mehr oder weniger ihrem Schicksal, alt zu werden und nicht mehr lange zu leben, ergeben. Was in diesem resignativen Alter in der Spätmoderne, in der sich die produktive Kraft zusehends verringert, noch bleibt, ist ein zumeist untätig sich treiben lassendes Verhalten dieser Population. Sie klagen in ihrer mangelnden produktiven Form über nachlassende körperliche und geistige Leistungsfähigkeit. Man hört sie auch immer wieder über den Verlust von Angehörigen und Freunden, über ihr Gefühl der Langeweile und insbesondere, wenn sie auf sich zurückgeworfen werden, über ihre Einsamkeit klagen. Sie schildern ihre glücklosen Erfahrungen als Rentner/innen, seufzen, nutzlos in der Gesellschaft zu sein, weil sie nicht länger gefragt sind. Ihr furchterregender Blick, in der Zukunft ein Pflegefall zu werden und bald dem Ende des Lebens entgegenzugehen, ängstigt sie. Nicht wenige ältere Menschen haben auch Angst vor dem Sterben und vor dem Tod, was ihr Alltagsleben negativ beeinflusst. Das Alter wirkt für sie wie ein Winter auf der Nordhalbkugel, kalt und dunkel.

Statt in ein Loch zu fallen, sich einfach fallen zu lassen, untätig zu werden und gar zu resignieren, gibt es jedoch auch einige Rentner/innen, die dem körperlichen Altern entgegenwirken und sogar dagegen ankämpfen. Sie wollen jung, dynamisch und fit bleiben. Sie sorgen sich um ihre eigene Person; sie wollen sich nicht abwartend verhalten, bis sie alt erscheinen, sie wollen keine Falten, keine grauen Haare und keine schrumpelige Haut. Anti-Aging-Produkte machen es möglich. Sie wollen sich nicht einfach gehen lassen, sondern anderen gegenüber ein schönes und gefälliges Erscheinungsbild an den Tag legen und die Mitbewohner/innen überzeugen, dass sie nicht zum alten Eisen gehören. Sie treten vehement der gesellschaftlichen Strategie der Dämonisierung der Alten, wie es Simone de Beauvoir einmal formulierte, entgegen, nach welcher sie als abweichend vom Normalitätsprinzip des jungen und schönen Jugendlichen in negativer Weise betrachtet und dementsprechend abgewertet werden. Sie erkennen nicht, dass selbst wenn es ihnen gelingen sollte, das äußere Altern hinauszuzögern, ihnen allerdings nicht bewusst wird, dass sie innerlich altern, das heißt, dass sie seelisch und geistig vergreisen können.

Einige ältere Menschen sträuben sich wiederum dagegen, den Status eines nutzlosen Rentners oder einer unnützen Rentnerin einzunehmen. Ihnen geht es darum, das geistige Altern zu verhindern. Sie wollen weiterhin geistig tätig sein, was in wunderbarer Dramatik in Tschechows Autobiografie eines berühmten Wissenschaftlers zum Ausdruck gebracht wurde. Er liebte seine wissenschaftliche Tätigkeit sowie die Unterrichtung seiner Studenten und wehrte sich gegen die Pensionierung, da er diese als alternd, abstoßend und widerwärtig empfand. Er betrachtete die Pensionierung als so widerlich, dass er sie mit einer Maßnahme verglich, jemanden in einen Sarg zu stecken, ehe er tot ist.

Es gibt, der Geisteshaltung Tschechows folgend, manche Rentner/innen, die Widerstand leisten gegen das Altern und geistig beweglich und lebendig bleiben wollen. Diese Gruppe entdeckt die Volkshochschule oder Hochschule für sich und diese älteren Menschen wollen anderen zeigen, wie gut sie noch drauf sind und wie sie mit vierzig bis fünfzig Jahre jüngeren Student/innen mithalten können. Die negative Einstellung in der Gesellschaft gegenüber älteren Menschen soll, so deren Perspektive, mithilfe des Studierens in ein positives Denken umgeformt werden, das bekräftigen soll, dass das Alter noch viele Möglichkeiten bietet, aktiv zu sein, zu lernen und zu arbeiten. Diese Leute vertreten die Meinung, wie sie durch das geistige Arbeiten und Lernen entdecken, dass das Alter nicht unbedingt Verfall der körperlichen und geistigen Kräfte bedeuten muss, wenn man, wie die Griechen in der damaligen Zeit den Senioren nahelegten, regelmäßig Körper und Geist nutzt.

Im Gegensatz zu den resignativen Alten, und auch im Unterschied zu den nur das körperliche Altern ankämpfenden Senioren und im Einklang mit den geistig aktiven Alten, wird in dieser Erzählung eine von dem Senior Siegmar inszenierte heitere und kreative Altenkultur beschrieben, in welcher das Altern akzeptiert wird und versucht wird, sinnvolle Projekte im Alter zu entwerfen. Wichtig ist für Rentner/innen, die vielen Möglichkeiten, die sich den älteren Menschen eröffnen könnten, zu erkennen und mithilfe dieser Erkenntnis autopoetische Tätigkeiten zu entfalten. Es wäre wünschenswert, wenn die älteren Menschen (was Siegmar sich von ihnen erhoffte) ständig offen für Neues sein könnten. Einer fröhlichen Altenkultur würden neue Erfahrungen im Alltagsleben zugrunde liegen. Schöpferisch ältere Menschen wären in ihrem Prozess des Alterns darauf ausgerichtet, eine von der Liebe zum Leben getragene glückselige und sinnvolle Alltagswelt zu produzieren. Diese würde auf der Hoffnung aufbauen, die Gegenwart der älteren Menschen wachsen zu lassen, und sie würde zeigen, dass die Zukunft dieser Population verheißungsvoll sein könnte, wenn sich diese Menschen durch ihre Initiative und Schaffenskraft der Zukunft entgegen schleudern.

In seinem Rentnerdasein setzt sich der aktive Senior Siegmar das Ziel, seine lebensphilosophischen Ideen in seiner Alltagswelt zu realisieren. Er strebt in seinem Denken und Handeln die Fülle des Lebens an, sei es zunächst einmal um das nachzuholen, was er während seines Berufes nur begrenzt in die Tat umsetzen konnte. Es beginnt in seinem Rentnerdasein die Liebe zum Leben in der Form von Spaziergängen, Fahrradtouren oder Reisen. Diese Liebe zum Leben erfährt er als eine Koppelung der Naturerfahrung des Schönen mit ermunternden, bestärkenden und belebenden sozialen mitmenschlichen Beziehungen und Begegnungen. Diese Erfahrungen bereiten ihm wahre Lebensfreude.

Er strebt jedoch nach höheren Idealen als nur spazieren zu gehen, Fahrrad zu fahren und zu reisen, obwohl er bei diesen Aktivitäten in wundervoller Weise der Natur und dem Mitmenschen begegnete. Er konstituiert sich darüber hinaus als Gestaltender mit seinen initiativen Handlungen, zunächst einmal eine Senioren- und eine Wahnsinnigengruppe aufzubauen. Er will etwas hervorbringen und in die Wege leiten, um sein Leben einzigartig und freudevoll zu gestalten, aber auch um die Situation der Alten und der Wahnsinnigen zu verbessern. Über diese Tätigkeiten hinaus verfolgt er noch weitere Projekte. Selbst als Nicht-Kirchengänger sieht er eine gewisse Zukunft in einer freireligiösen Gemeinschaft und bringt dort seine lebensphilosophischen Ideen ein. Als Rentner setzt er sich dort mit den von Kant aufgeworfenen philosophisch/religiösen Fragen auseinander: Was ist der Mensch? Was kann der Mensch wissen? Was kann der Mensch hoffen? Was soll der Mensch tun?

Ihm liegt ferner am Herzen, die Nachbarschafts- und Ortsteilbeziehungen zu verschönern und auf mehr Lebendigkeit unter den Menschen hinzuwirken. Des Weiteren gründet er eine Gesprächsrunde zum Thema Leben, um visionäre Lebensvorstellungen zu diskutieren. Außerdem engagiert er sich in lebenswürdigen Alternativen zum Altenheim. Sein intensives Bemühen, die Liebe zum Leben einem breiten Publikum zugänglich zu machen, motiviert ihn, darüber hinaus, Texte über seine diversen Projekte zu schreiben.

Ein erfüllendes Alter scheint Siegmar zufolge eines zu sein, in welchem er neue Lebensinhalte sät und er bereits die Früchte seiner Saat ernten kann. Seine Lebensvorstellungen und seine Praktiken, das Leben zu lieben, sind bahnbrechend für eine alternative Altenkultur, die für dynamische Lebensentwürfe im Rentnerdasein plädiert und darauf drängt, Zukunftsbilder zu entwickeln, statt die Bilder der Vergangenheit immer wieder aufkommen zu lassen, was der Philosoph Schopenhauer zurecht kritisierte. Seiner Meinung nach scheint das weitverbreitete Problem älterer Menschen zu sein, da sie nichts Neues im Alter mehr erleben, immer wieder die gleichen Lebensgeschichten aus früheren Zeiten zu erzählen. Damals bestand ihre Alltagswelt noch aus nicht wenigen Lebensereignissen und -erfahrungen, die ihnen leider als ältere Personen abhanden gekommen sind. Daher bedarf es wieder neuer gestaltender Texte, und die entstehen wahrscheinlich dadurch, dass die Senioren wieder mit schöpferischer Hand nach der Zukunft greifen. Dann könnten sie wieder genügend neue Erfahrungen sammeln. Jeder Tag könnte wieder anders als der vorherige sein und sie müssten nicht immer auf die Erlebnisse der Vergangenheit zurückgehen, wenn sie etwas erzählen wollen. Sie wären wieder in der Lage, an das Vermögen der ewigen Neuheit zu glauben.

In einer fröhlichen, auf der Liebe zum Leben beruhenden Altenkultur wird der im Ruhestand lebende ältere Mensch, und das zeigt der vielseitig projektengagierte Siegmar, sich nicht länger von Institutionen und Medien prägen lassen und dabei rezeptiv und unterwürfig sein, sondern selbst etwas in die Hand nehmen und die alltägliche Schöpferkraft als einen organischen Teil des Lebens betrachten. Der ältere Mensch sollte, das ist das Ziel der Erzählung, ein eigenverantwortliches, sich selbst bestimmendes, sich selbst regulierendes und gestaltendes Indivi-duum werden.

Die Erzählung umfasst zwei Teile. Der erste Teil geht auf seine Aktivitäten und Siegmars Kreativität von seinem 65. Lebensjahr, also von seiner Pensionierung an, bis zu seinem 70. Lebensjahr ein. Der zweite Teil beschreibt sein Wirken vom 70. bis zum 80. Lebensjahr. Die Erzählung soll darlegen, dass für Siegmar das Alt-Sein eine genauso schöne und vielfältige Aufgabe wie das Jung-Sein bedeuten kann und dass es das Entdecken eines kreativen und schönen Alters implizieren kann. Es ist wichtig, dass die ältere Person davon abrückt, nur die Schwächen wie Gebrechlichkeit, Krankheit und Leiden im Alter wahrzunehmen und auf diese Weise nicht nur einen begrenzten defizitären Blick in ihrem Leben aufkommen zu lassen, sondern in sich die Stärke zu verspüren, sich einer bedeutenden Sache zu bemächtigen und dadurch den eigenmächtigen Willen in der Alltagswelt zu bekunden.

Der tatkräftige, lebendige und zielbewusste Siegmar zeigt ebenso, wie wichtig es im Alter ist, sich nicht durch die chronometrische Zeit, die Zeit der Kalender und Uhren, die Zeitmessung von der Geburt oder von der Pensionierung an objektiv, linear oder quantitativ bestimmen zu lassen.

Die Griechen unterschieden bereits zwischen Chronos (die Uhr als chronologisches Messgerät) und Kairos (das menschliche Zeitgefühl). Danach ist Zeit nicht gleich Zeit, sondern zeigt unterschiedliche Zeiterlebnisse auf. Wenn Rentner/innen sich ziemlich passiv verhalten und der Wille zum Schaffen schwindet und sie im Alter nur noch selten neue Erfahrungen machen beziehungsweise wenig neue Eindrücke zu verarbeiten haben, dann langweilen sie sich und schlagen die für sie linear ablaufende Zeit tot. Demgegenüber hat der ältere Mensch, der neue Ideen entwickelt und neue Eindrücke verarbeitet, wie dies Siegmars Rentnergeschichte in der Erzählung aufzeigt, ein anderes Zeitgefühl und eine andere Zeitqualität. Mittels der vielen Tätigkeiten läuft für den Schaffenden die Zeit anders ab, weil er nunmehr auf die Zeit gestaltend einwirkt und sie in ihrer Form bestimmt.

Mithilfe der von Siegmar entfalteten heiteren Altenkultur soll das Stumpfsein und das Automatenhafte der Rentner/innen, das ihnen verwehrt, Neues zu erleben, überwunden werden. Sie sollen dazu gebracht werden, Potenziale in sich zu entdecken. Um diesem Potenzial im Alter gewahr zu werden, es in seiner Signifikanz zu erkennen und es zu würdigen, bedarf es einer geistigen Offenheit und eines Gefühls der Freiheit. Nietzsche zufolge hat der freieste Mensch das größte Machtgefühl über sich und die größte Unabhängigkeit seiner Kräfte. Nach Fromm muss der Alte alle seine Fähigkeiten gebrauchen, die aus ihm erst wirklich einen Menschen machen. Der Lebenswille – der Wille zum Schaffen – muss im Alter aktiv und formgebend bleiben. Die Erzählung offenbart in dem Denken und Handeln Siegmars, wie die produktiven Stärken genutzt werden könnten, um Veränderungen beziehungsweise Verbesserungen der eigenen und der sozialen Situation in seiner Umgebung herbeizuführen. Der Wille zum Schaffen wird zum Willen zur Lust und zum höchsten Zustand von Bejahung des Daseins. Die individuelle Schaffenskraft mündet bei Siegmars Initiativen nicht selten in eine ko-aktive Schaffenskraft, in welcher sich nicht nur bei ihm, sondern auch bei seinen Mitmenschen eine leidenschaftliche Liebe zum Leben und zu allem Lebendigen manifestiert. Dieses mögliche Zusammenwirken der gestalterischen Kräfte könnte dazu führen, dass das Leben im Alter wieder voller Erleben, Bewegung und Freude sein kann.

Trotz aller erfreulichen Gestaltungsmöglichkeiten im Alter kann der Mensch jedoch nicht umhin, sich als endliches Wesen zu begreifen, dessen alltägliches Sein, wie Heidegger es formulierte, auch ein Sein zum Tode ist. Siegmar zeigt, dass der Mensch einen subjektiven Bezug zum Tod herstellen muss. Zwar kann der subjektive Bezug zum Tode nicht unser Leben retten, doch er hilft uns, mit dem Tod authentisch umzugehen. In dieser Erzählung soll deutlich werden, dass der Tod nicht als der Feind des Lebens begriffen werden sollte, eine Vorstellung, die von Siegmars Freundin entwickelt worden ist und bei ihr häufig Panikattacken auslöste. Statt dieser Angst vor der den Tod hervorrufenden Vergegensätzlichung, sollte der Tod als ein integraler Bestandteil des Lebens wahrgenommen werden. Es ist für uns Menschen im Angesichte des Todes von großer Bedeutung, das Leben hier und jetzt schätzen zu lernen. Nach Nietzsche ist das Sterben ein Akt des Lebens und nur derjenige, der im Leben eine edle Haltung bewahrte, kann mit Würde sterben. Siegmar sieht den Tod und das Danach als ein offenes Phänomen, als etwas Unbekanntes, als ein Geheimnis, in das kein Mensch eindringen kann. Siegmars Botschaft an seine Mitmenschen ist, den Tod nicht zu fürchten, denn ´der Name des Bogens ist Leben, sein Tun Tod´, wie Heraklit betonte. In einem ganzheitlichen Denkkonzept ist es wichtig, das einzig Sinnvolle zu tun, nämlich dafür Sorge zu tragen, dass die Liebe zum Leben in unserer Alltagswelt zum Tragen kommt und wir hier und jetzt sinnvoll leben lernen, um dadurch am Ende unseres Lebens sinnvoll sterben zu lernen.

Manch ein Leser/eine Leserin mag die Frage aufwerfen, ob dem Altern eines Hochschullehrers nicht ganz andere Voraussetzungen zugrunde liegen als dem eines Arbeiters. Gehören beide nicht ganz unterschiedlichen Schichten an? Fließen nicht ganz unterschiedliche Lebensgeschichten in das Rentenalter ein?

Zweifelsohne ist für Siegmar die Freiheit des geistigen und schöpferischen Gestaltens schon immer, von der Ausbildung bis hin zur beruflichen Tätigkeit, ein Teil seines Lebens gewesen, während ein Arbeiter lange Zeit bis ins Rentenalter hinein zumeist von seiner Hände Arbeit lebte und wenig eigene Ideen verwirklichen konnte und kaum eigene Gestaltungsmöglichkeiten hatte. Aber selbst wenn Siegmar als Akademiker Vorteile in Bezug auf die produktiven und geistigen Tätigkeiten gegenüber einem Arbeiter hatte, so ist doch das Prinzip der Liebe zum Leben genauso wie die Entwicklung einer fröhlichen Altenkultur etwas Schichtenunspezifisches. Dieses Prinzip setzt nicht unbedingt großartige geistige Fähigkeiten voraus. Auch Menschen mit geringerer Bildung können, ebenso wie Siegmar, glückselige Momente in ihrem Alltag erleben, wenn sie beim Fahrradfahren, beim Spazierengehen oder beim Reisen die Pracht der lebendigen Natur in Erfahrung bringen oder sich des Lebens freuen und es genießen können, wenn sie anderen guten und edlen Menschen begegnen. Außerdem ist es nicht schichtenspezifisch, für eine lebendige Nachbarschaft Sorge zu tragen beziehungsweise ein Nachbarschaftstreffen zu initiieren und dadurch ein Gemeinschaftsgefühl mit stetigem Kommunikationsfluss und Informationsaustausch entstehen zu lassen. Möglich und sinnvoll wäre es ebenso, in diversen Vereinen sowie sonstigen sozialen Organisationen mitzuwirken und sich dort in verschiedenster Weise einzubringen. Dort könnten Gemeinschaftsgefühle aufkeimen und ein lebendiger Wir-Raum erwachsen. All diese Erfahrungen und viele mehr könnten auch bei Nicht-Akademiker/innen zu einer fröhlichen Altenkultur beitragen und die Liebe zum Leben aufkommen lassen.

Teil I

Vom 65. bis 70. Lebensjahr

Kapitel I

Siegmars fröhlicher Einstieg ins Rentenalter

Abschied von der Arbeitsstätte

Es war ein herrlicher Sommertag und alles erstrahlte im Lichte der Sonne. Die alten Gebäude der Hochschule – der langjährige Arbeitsplatz des angehenden Rentners Siegmar – waren umgeben von alten Eichen und Kastanienbäumen. Auf dem Beet längs der Vorderseite der Hochschule waren wunderschöne, farbenprächtige Blumen gepflanzt worden. Ein herrlicher Anblick für den Naturliebhaber Siegmar. Vor den Toren der Hochschule erlebte er die herrliche Natur, im Innern nahm er teil an der bedeutsamen und vielsagenden Kultur. Beinahe vierzig Jahre hat er dort als Hochschullehrer in den Sozialwissenschaften und in der Sozialphilosophie gewirkt. Mit dem heutigen Tag hieß es Abschied nehmen von einer insti-tutionellen Welt, die er zugleich liebte und hasste. Er schrieb und lehrte gern, es bereitete ihm Spaß, mit seinen Student/innen zu kommunizieren und kritische Ideen der Geschichte und der Kultur mit ihnen auszutauschen. Er führte auch häufig interessante und sinnvolle Gespräche mit einigen anderen Hochschullehrer/innen, fand jedoch den Umgang mit der Verwaltung – dem Dekan, dem Kanzler und anderen Funktionären – höchst unangenehm und unerfreulich. Er beurteilte sie als trockene, langweilige und abstoßende, auf Funktionalität ausgerichtete, aber auch als üble auf Gesetz und Ordnung sich berufenden Paragrafenmenschen der Hochschule, die Abweichungen als Dysfunktionalität bezeichneten und unverzüglich ahndeten. In den letzten Jahren seiner beruflichen Tätigkeit wurden, wie er dies schon in früheren Jahren seines Dienstes in Erfahrung bringen musste, einige seiner Veranstaltungen vom Dekan nicht genehmigt und der Präsident, ohne ein klärendes Gespräch mit ihm darüber zu führen, stellte sich sofort auf die Seite des Dekans. Er wollte im Gegensatz zu früheren Zeiten, als er gegen solche Entscheidungen rebellierte, keine größeren Konflikte mehr im Alter, denn sie bedeuteten für ihn viel extra Zeit, Energie und vor allem Stress, was er für sein Alter als gesundheitsschädigend einschätzte. So tat er in geschickter Weise ohne größeren Aufwand das, was von ihm gefordert wurde, indem er den Titel und Inhalt der Veranstaltungen ein wenig veränderte, um sie mit den curricularen Gegebenheiten in Einklang zu bringen. Auch wurde er vom Dekan gerügt, dass er sich mit den Student/innen duze und dadurch das pro-fessionelle Verhältnis zu den Studierenden beeinträchtigt werden würde. Außerdem wurde ihm vorgeworfen, er zensiere zu milde, denn seine Notengebung bewege sich immer im obersten Bereich. Er nahm diese Kritik zur Kenntnis, ließ sich jedoch dadurch nicht in seiner Marschrichtung als Hochschullehrer bestimmen.

Die Studierenden hatten eine Abschiedsfeier in seiner letzten Veranstaltung organisiert. Sie waren äußerst traurig, ihn als Hochschullehrer zu verlieren, denn er war anders als die meisten sonstigen Lehrenden, nicht so angepasst, nicht so auf Funktionalität ausgerichtet, wenig durchschnittlich und nicht so sehr normal. Er fiel, was die Gepflogenheiten an der Hochschule anbetraf, nicht selten aus dem Rahmen. Er war schlicht und einfach ein etwas ungewöhnlicher Typ. Da er sich neben seinen lebensphilosophischen Veranstaltungen auch sehr intensiv mit dem Wahnsinn befasste und zusammen mit Wahnsinnigen eine Nachtstätte aufbaute sowie auch Wahnsinnige zu Veranstaltungen an die Hochschule einlud, nannten sie ihn oft den wahnsinnigen Siegmar. Sie meinten es in einem positiven Sinne. In seinen Veranstaltungen und in seinen Beratungsgesprächen ging er immer auf die Bedürfnisse seiner Student/innen ein, lehrte sie kritisch zu denken und sich nicht an gegebene Bedingungen anzupassen, sondern sich mit ihnen stetig auseinanderzusetzen. Eine Studentin pries in ihrer Abschiedsrede den Hochschullehrer als einen intelligenten, angenehmen, gefälligen, erfreulichen, umgänglichen und liebens-würdigen Menschen, der alles locker oder ungezwungen anging, die Hochschule einfach nicht so ernst nahm, wie einige andere Hochschullehrer/innen und wie vor allem die Bediensteten der Verwaltung. Er war immer gut gelaunt, fröhlich, lustig und scherzte hin und wieder.

Ungewöhnlich war auch seine Reaktion bei der Abschiedsfeier, als er gefragt wurde, ob er nicht gewillt wäre, einen Termin für ein Treffen in der Zukunft jetzt schon mit ihnen zu vereinbaren und er dann antwortete, dass er jedwede Vereinbarung in der Zukunft, jegliche Terminfestlegung als Zeitdiktat empfinde. Er habe über Jahrzehnte Termine einhalten müssen, seien es Veranstaltungen, ständige Fachbereichsratssitzungen, Betreuungsgespräche, Prüfungen und anderes gewesen, sich also dem Diktat der Zeit unterwerfen müssen. Er betonte: „Ich setze nicht gern Termine fest, denn ich fühle mich durch sie gebunden. Als Rentner will ich, soweit dies möglich ist, nicht länger Sklave der Zeit sein. Mein Leben lang bin ich der Allmacht der Zeit ausgeliefert gewesen, vom Kindergarten über die Schule, Uni bis zum heutigen Tage an der Hochschule. Nunmehr wieder Termine festzulegen, würde mich erneut zu einem Unterworfenen der Zeit machen.“

Er schlug stattdessen vor, dass er, wenn er zufällig während der Mittagszeit an der Hochschule vorbeikommen sollte, schaue, ob er einige Student/innen zu sehen bekomme. und falls ja, mit ihnen in der Cafeteria Kaffee oder Tee trinken und vielleicht etwas essen werde. Oder er treffe den einen oder anderen durch einen glücklichen Zufall auf der Straße, im Kino, im Park, im Supermarkt, am Uni-See, und er würde sich sehr darüber freuen und die Betreffenden zu einem Drink einladen. Voller Spannung würde er verfolgen, wie sie sich entwickelt hätten oder was sie so alles in der Zwischenzeit erlebten, denn jeder Tag sei ja ein neuer, noch nie da Gewesener. Er sagte mit rührender und ergreifender Stimme: „Sollten wir uns in einem Jahr treffen, dann habt ihr 365 einzigartige und einmalige Tage hinter euch gebracht. Die Folge ist, dass wir uns ziemlich lange unterhalten müssten. Wenn ich dann noch alles erzähle, was ich an jedem Tag Neues erfahren habe, dann wird die Unterhaltung noch länger dauern. Die Zukunft bleibt für uns alle offen und ich will sie offen halten; wir wissen einfach nicht, was das täglich Neue sein wird. Der Unterschied zwischen euch und mir ist die Differenz in den Dimensionen Raum und Zeit. Ihr macht zum einen zukünftig eure Erfahrungen in anderen Räumlichkeiten als ich und ihr müsst euch zum anderen an der Hochschule und in eurer späteren Arbeit dem Zeitdruck unterwerfen, ich als Rentner dagegen nicht länger.“