Frank Freyer: Sagt, was hat mir diese Welt verfilzt, als ich plötzlich erwachsen war?/Leseprobe

Kapitel 1
Eine unbeschwerte Kindheit – oder?

1958 erblickte ich das Licht dieser Welt, im Osten des damals geteilten Deutschlands, in der tiefsten Provinz von Sachsen-Anhalt. Es war ein historisch bedeutsames Jahr in diesem Land, wurde doch endgültig die Rationierung der (allerletzten) Lebensmittel abgeschafft. Die Lebensmittelkarte hatte ihre Mission erfüllt. Das war doch was.

Aber von solchen bedeutsamen Momenten ahnte ich damals noch nicht einmal etwas. Auch habe ich erst viel später per Zufall erfahren, dass Sharon Stone, Jamie Lee Curtis, Kate Bush und meine Wenigkeit ein gemeinsames Band verbindet. Wir sozusagen einen kleinsten gemeinsamen Nenner haben. Jetzt kommt der Rechenlehrer durch. Und, selbst solche wohlklingenden Namen wie Madonna und Michael Jackson haben sich als Zähler in meine Bruchrechnung eingereiht. Natürlich mit einer viel, viel höheren Wertigkeit. Wir sind alle 1958er.

Die ersten Jahre meines irdischen Daseins verliefen wohlbehütet und umsorgt. Denke ich zumindest, und es war bestimmt auch so. Muss mal meinen Bruder fragen. Ich war ja der Nachzügler, der bedeutend jüngere. Geschwisterkinder ahnen, was ich nur andeuten möchte. Wärme, das Bedürfnis nach Streicheleinheiten, Durst, Hunger (darf man das überhaupt als Hunger bezeichnen?), wohltuende Worte und Berührungen, so einfach und unkompliziert war das. Kurz, ich merkte nichts, noch nichts, von den widersprüchlichen Dingen dieser Welt. Ein seliger Zustand! Die Machtübernahme durch Fidel Castro und Guevara in Kuba 1959, ich bekam es nicht mit. Auch die Mondflüge der damals noch sowjetischen ´Lunik´ und ´Sputnik´ Satelliten 1959 und 1960, ich habe sie bestimmt verschlafen. Der Bau der Berliner Mauer im August 1961, im ostdeutschen Sprachgebrauch offiziell ´Antifaschistisch demokratischer Schutzwall´: nichts mitbekommen. Der erste bemannte Raumflug von Kosmonauten Juri Gagarin im Raumschiff Wostok 1, der Beginn und Verlauf der sogenannten Kubakrise: keine Anteilnahme, keine Reaktion. Ganz einfach noch nicht aufnahme- geschweige denn widerspieglungsfähig gewesen. Ganz besonders ´tragisch´ für mich als Fanatiker der Musik der doch eher populären Spielart ist aber folgender Fakt. Die Anfänge der Beatles, diese einzigartige, faszinierende und auch ansteckende Musizierart der vier Liverpooler und der Beginn ihres weltweiten Erfolgs: jammerschade, aber ich hab´s nicht registriert.

So gingen die ersten Jahre meines noch jungen Lebens ins ostdeutsche Land. Ich war bestimmt satt, zufrieden und hoffentlich sehr schnell trocken. Für meine Eltern, speziell für meine Mutter, sicher ein Sonnenstrahl für ihr Gemüt. Und langsam, in anfangs noch ganz winzigen Schritten, begann ich die Farben der Welt zu erkennen, ja diese sogar zu reflektieren. Die Schritte wurden stetig ausgreifender. Aber, dass ich Siebenmeilenstiefel an meinen Füßen getragen hätte, war keinesfalls der Fall. Weder aus erkenntnistheoretischer und gleich gar nicht aus sportlicher Sichtweise; am aller, allerwenigsten aus sportlicher Sicht.

Irgendwann kam mir dann aber doch eine Erkenntnis, die mein Denken aber insbesondere auch mein Handeln wesentlich prägte: ´Frank, du bist kein richtiger Junge!´ Zumindest nicht, was den Klischeevorstellungen von einem männlichen Erdenbürger der Mittsechziger des Zwanzigsten Jahrhunderts entsprach.

Damit die Gerüchteküche nicht brodelt oder gar überschäumt. An dieser Stelle geht es nicht um sexuelle Neigungen oder sonstige Bedürftigkeiten. Nein, es war etwas anderes. Anfangs mehr so ein Gefühl, doch mehr und mehr wurde es zur Gewissheit. Ich konnte mit Gleichaltrigen, namentlich Jungs, nichts anfangen. Und so war es schwer, verdammt schwer, Freunde oder wenigstens Kumpels zu finden. Ein Leben als Außenseiter, weniger als Spitzenreiter, schien vorprogrammiert zu sein. Auf dem Schulhof herumtollen, Ringkämpfe austragen und das, was sonst noch so in den Pausen üblich war: nicht mein Ding. In der Freizeit in einer Kinderbande mitmischen, in der Gegend herumstromern: ist mir zu blöd.

Doch es gab (und gibt immer noch) Steigerungsmöglichkeiten. Ganz oben im Ranking meiner Antipathien stehen Mannschaftsspiele. Himmel habe ich, aber auch meine Mitschüler, damals darunter gelitten. Jede Mannschaft war gestraft, wenn ich ihr zugeteilt wurde. Ich war immer (an Ausnahmen kann ich mich nicht erinnern) der Letzte, der gewählt wurde. Kann man das überhaupt als gewählt bezeichnen? Zugeteilt trifft den Sachverhalt präziser. Ob Völkerball, Handball, Volleyball oder Fußball – es waren Höchststrafen für mich. Ich konnte und kann einfach nicht verstehen, warum so viele vernunftbegabte Wesen einem einzigen Ball hinterher rennen. Selbst Erwachsene. Ich würde jedem einen Ball geben. Hoffentlich werde ich jetzt nicht von Freaks gesteinigt.

Es waren andere Dinge, anfangs wenig fassbar, denen mein Interesse galt. Aus meiner damaligen Sicht ernstere, erwachsenengerechtere Dinge. Viel Lesen. Das soll ja bekanntlich bilden. Mit meinem besten Freund die kleine Welt rund um unseren Heimatort erkunden. Das Erlebte, Gesehene, das Gehörte aber auch das Gelesene ausführlich besprechen. Und grübeln. Weniger über Gott, mehr über die Dinge dieser begrenzten Welt. Aber war das nur grübeln, oder waren das schon erste zarte Versuche Hintergründe zu beleuchten, Wechselwirkungen zu versehen und zu entscheiden, was ist die Ursache und welches die Wirkung. Kurz: Der Denker wurde allmählich aktiv. Oder war ich einfach nur ein heranwachsender Träumer?
Kein Wunder also, dass sich als Berufswunsch, zumindest einer von vielen, lange Zeit Philosophie hielt. Aber dazu später.


Kapitel 2

Ich erinnere mich – die Anfänge

Meine erste Erinnerung, ´politisch tätig gewesen zu sein´, bezieht sich auf das Jahr 1968. Auch wenn es nur sehr vage Erinnerungen sind. Ich war gerade mal zehn Jahre alt.

Im April dieses Jahres sollte in der damaligen DDR eine neue Verfassung, natürlich sozialistischer Leseart, in Kraft treten. Wer wie ich aus dem Osten unseres Landes stammt, kann das Folgende nach bestem Wissen und Gewissen bestätigen. Der Ausgang der sogenannten Volksabstimmung über die neue Verfassung stand bereits im Vorfeld fest. Noch bevor überhaupt ein Bürger seine Stimme abgegeben hatte. Und das mit mindestens 98 Prozent, oder so in etwa. Aber wusste ich damals etwas davon, oder ahnte zumindest etwas? Nein!

Diejenigen, die es zumindest ansatzweise hätten ahnen können, schwiegen. Meine Eltern und mein Bruder, der ja zu diesem Zeitpunkt bereits volljährig war. Warum? Das ist eine sehr komplexe Frage, auf die es bestimmt nicht nur die eine richtige Antwort gibt. Dazu aber an anderer Stelle mehr.

Irgendwie nahm der zehnjährige Frank diese Volksabstimmung aber sehr ernst. Sie war für ihn bedeutungsvoll, und somit wollte er auch eindeutig Hal-tung beziehen und Flagge zeigen. Das ist symbolisch gemeint. Denn es waren keine Fahnen, die ich ins Wohn-zimmerfenster stellte, sondern zwei Plakate, die zum Ja für die Verfassung aufriefen. Ich der Propagandist?

Wenn ich mich so recht erinnere, stand darauf das Datum der Abstimmung über die neue Verfassung. Es muss wohl im April 1968 gewesen sein. Und die beiden Kreise zum Ankreuzen der theoretischen Alternativen; JA oder NEIN. Angekreuzt war natürlich das Ja.

Ich hatte mich mächtig ins Zeug gelegt, bin sogar vor unser Wohnhaus gegangen, um zu sehen, ob die Plakate groß genug sind, um deren Aussagekraft von der Straße aus zu erkennen. Ich war stolz auf mich und wurde von meinen Eltern bestimmt auch gelobt. Vielleicht habe ich auch geglaubt, der überdurchschnittliche Anteil der ´Ja-Sager´ ist auch ein wenig mein Verdienst! So naiv war ich damals.

Und noch ein zweites Ereignis ist mir aus dieser Zeit in Erinnerung geblieben. Richtig banal und simpel gegen eine Volksabstimmung zwar, aber dennoch in guter Erinnerung. Zeigte es mir doch, welcher Seite mein Herz gehörte: den Aufrichtigen, nicht den Fiesen, den Ehrlichen und nicht den Durchtriebenen, kurz gesagt: den Guten und nicht den Bösen! Damals war das noch soooo einfach einzuordnen. Gemeint ist das Erscheinen des DEFA-Indianerfilms die Söhne der großen Bärin im Jahre 1966. Gojko Mitić, später auch der Chefindianer der DEFA genannt, als edler, starker Häuptling Tokei-ihto.

Irgendwann, ausgangs der 1960er Jahre, habe ich diesen Film erstmalig gesehen. Himmel, das ging los und ergriff mich. Gojko Mitić, nicht so ein Hänfling wie ich, sondern ein Mannsbild durch und durch, im Ringen um den Fortschritt und das Gute in der dargestellten Zeit, aufrecht und stark wie ein Baum. Sofort wollte ich werden wie er. Zumindest kurz nach Ende des Films. Und, obgleich ich nicht zu den Ungestümen, zu den allzu Überschwänglichen gehöre; ich erkannte mich selbst nicht. Wie ein Wilder ´ritt´ ich auf meinem noch wilderen Mustang nach Hause. Auf dem Weg dahin habe ich bestimmt so manchem Schurken einen ordentlichen Schrecken eingejagt. Oder ihn zum Besseren bekehrt. Dann war´s verpufft.

Einen Mustang sollte ich später wirklich einmal reiten, oder besser fahren. Mein erstes Moped, eine Mustang der tschechischen Firma Jawa. Jetzt bitte, bitte nicht so laut lachen.

Heute stellt sich mir die Frage: Warum dieses persönliche Engagement meinerseits für die soziale Ordnung meines Landes. Damit eng verbunden der Einfluss meiner Eltern zur damaligen Zeit auf mich den Heranwachsenden, den Suchenden, teilweise auch den Hinterfragenden?

Aus heutiger Sicht, als fast Sechzigjähriger, sehe ich das wie folgt. Ich glaube, dass ich damals der felsenfesten Überzeugung war, auf der Seite der Sieger der Geschichte zu sein. Zumindest von dem Zeitpunkt an, ab dem ich meine natürliche und vor allem gesellschaftliche Umwelt immer bewusster wahrnahm und widerzuspiegeln begann. Ich empfand diese Gesellschaft, sicher sehr instinktiv zunächst, als zutiefst menschlich und auch gerecht. Bestimmt spielte hier auch die politische Erziehung im damaligen System eine Rolle, vor allem in der Schule. Ich nenne hier nur zwei Stichwörter: Pionierorganisation und Freie Deutsche Jugend. Bei mir müssen die dort aus- und besprochenen Dinge auf sehr, sehr fruchtbaren Boden gefallen sein. Ob der Vortragende, der Vermittelnde, der Lehrer oder der Freundschaftsvorsitzende selbst an das Dargebotene glaubte oder nicht, konnte ich damals noch nicht unterscheiden. Dafür war ich einfach noch zu jung.

Ein weiterer Fakt, der meinen politischen Werdegang stark beeinflusste, war die politische Haltung meiner Eltern. Damit ich von Anfang an richtig verstanden werde. Das ist kein Vorwurf an meinen Vater, an meine Mutter. Beide haben den schrecklichen Zweiten Weltkrieg bewusst erlebt. Mein Vater, aus einer kommunistisch geprägten Arbeiterfamilie stammend, musste und hat als Soldat für die Nazis gekämpft. Genauso wie Millionen anderer Männer auch. Die Zehen an beiden Füßen erfroren und abgenommen. Und dabei ist er, so glaube ich, noch glimpflich davongekommen. Der Vater meiner Mutter, deutscher Kommunist in der von den Faschisten besetzten Tschechoslowakei, in Berlin Plötzensee zum Tode verurteilt und hingerichtet. Dennoch musste ihrer Familie später ihren Besitz, das Land verlassen. Wie die anderen sogenannten Sudetendeutschen auch. Aber man war ´gnädig´ zu ihnen. Sie durften einen Teil ihres Besitzes mitnehmen und waren keinen Repressalien ausgesetzt.

Achtung, ich möchte hier keine Schuld und Sühne Diskussion führen, auch nicht auf Ursache und Wirkung, Primäres und Sekundäres eingehen. Nein, ich will ausdrücken, dass ich froh bin, so etwas nicht erlebt haben zu müssen.

Dieses Erlebte hat meine Eltern bestimmt nachhaltig geprägt. Ist es da nicht mehr als menschlich verständlich, dass sie glaubten, dass der Osten der bessere, der gerechtere Teil Deutschlands werden würde? Und so haben sie mich, trotz so mancher Detailkritik in Alltagsfragen, in diesem Sinne erzogen. Es gab aber noch andere Gründe, Hintergründe genauer formuliert. Diese sollte ich aber erst Jahre später erfahren und begreifen.

Es muss in den 1970ern begonnen und sich vor allem in den 1980er Jahren gefestigt haben. Ein schleichender Erkenntnisprozess für meinen Vater, dem jüngsten Sohn einer Familie mit proletarischem Hintergrund. Ältere Kommunisten unserer Stadt, die in der Zeit des National-sozialismus wegen ihrer Überzeugung in Buchenwald eingekerkert wurden, hatten offenbar sehr viel Vertrauen zu meinem Vater. Sie offenbarten ihm: „Dafür haben wir nicht in Buchenwald gesessen.“ Diese Männer stellten nicht die neue Gesellschaftsordnung in der damaligen DDR als Ganzes infrage. Gott, oder besser: Marx bewahre. Aber es kamen Zweifel an der konkreten Umsetzung auf.

Mein Vater behielt solche Gedanken, seine Zweifel für sich. Warum wohl?

In dieser Zeit entwickelte ich mich mehr und mehr zu einem Außenseiter in meiner Klasse, aber auch in meiner Altersstufe. Wie schon zuvor erwähnt, die kindlichen Spiele meiner Altersgenossen waren mir zu naiv. Ich schloss mich selbst aus und wurde somit öfter zur Zielscheibe von Spott und Häme. Auch gesellte ich mich stattdessen lieber zu den Mädchen. Rein kumpelhaft und zum Quatschen. Die Mädels waren zu diesem Zeitpunkt in ihrem Denken und Handeln, in ihrer gesamten Persönlichkeitsentwicklung einfach Meilen voraus.

Aber zum Glück hatte ich einen Freund. Einen Freund, der diesen Titel auch mit Fug und Recht verdiente, nicht nur irgendwie einen Kumpel, einen, ja nur einen Freund. Und diese Freundschaft sollte die kommenden Jahre meiner Entwicklung wesentlich mitprägen. Erst meine Delegation zur Erweiterten Oberschule, kurz EOS, heute Gymnasium, führte zwangsläufig zum schleichenden Sterben dieser Freundschaft. Jammerschade!
Für alle Nicht-dabei-Gewesenen, als Delegation wurde der Vorgang der Aufnahme in ein Gymnasium (EOS) in der Regel nach acht Klassen Polytechnischer Oberschule (POS) bezeichnet. Tja, nichts mit Notendurchschnitt erfüllt und ab in die höhere Schulwelt; oder neuerdings noch einfacher. Das war damals so etwas wie eine Auszeichnung und Verpflichtung für den weiteren Werdegang. Um es sich besser, bildlicher vorstellen zu können, wir waren damals zwei, zwei Jungs von circa 25 Schülern, denen dieses Glück zuteil wurde. Und der eine oder die andere hat diese Chance auch richtig genutzt. Mehr unbewusst damals als bewusst, haben sie ein Studium gemeistert und eine Berufung ergriffen, die sich Jahre später als ´nachwendetauglich´ erwiesen hat. Klasse.

Ich wollte lange Zeit Philosophie studieren.

Der Korrektness halber will ich aber noch erwähnen, dass es damals auch noch auf anderem Wege möglich war, an das Abiturzeugnis zu kommen.