Vorwort
Der Autor des Buches wurde erst im ungewöhnlich hohen Alter von 68 Jahren erstmals als autistisch (Asperger-Syndrom) diagnostiziert.
Alleine dieser Umstand würde als Anlass genügen, sich näher mit ihm und seinem Lebensweg zu befassen. Doch es gibt noch einen weiteren speziellen Aspekt seines Lebens, der Interesse wecken sollte, und zwar sein hier vorliegendes Buch. Er hat an diesem autobiografischen Roman fast 20 Jahre geschrieben und immer wieder mit autismusspezifischem Perfektionismus korrigiert und überarbeitet, verworfen, neu formuliert und dies oftmals wiederholend, um so das perfekte Buch zu schreiben. Vor Kurzem erst hat er diesen Gedanken verworfen und sein Werk zur Veröffentlichung freigegeben, um jetzt einfach seine Lebensgeschichte mit anderen Menschen zu teilen. Er möchte damit Verständnis für sein oft ungewöhnliches, seltsames Denken und Verhalten wecken. Zusätzlich geht es ihm darum, andere Menschen aus dem Autismusspektrum zu ermuntern, sich selbst zu akzeptieren und an eigenen Ideen und Wünschen festzuhalten.
Der Text handelt hauptsächlich von den vielen vergeblichen und oft äußerst ungeschickten, bis geradezu grotesken Versuchen, sich Mädchen und später Frauen zu nähern und so die Liebe zu finden, ohne richtig zu wissen, worum es sich dabei genau handelt. In seinen Beschreibungen werden viele Missverständnisse und Fehlinterpretationen deutlich, da der Autor autismusbedingt nur eingeschränkt dazu in der Lage ist, sich in die Gedanken und Reaktionen anderer Menschen hinein zu versetzen. Der Autor berichtet sehr offen und geradezu schonungslos auch über intime Details. Dabei, sowie bei der Beschreibung alltäglicher Objekte und Handlungen wird seine stark ausgeprägte, sehr genaue Beobachtungsgabe deutlich.
Ganz offensichtlich ist das Buch vom Autor nicht nur gedacht als eine Mitteilung über seinen sehr komplizierten und schwierigen Lebensweg, währenddessen er drei unterschiedliche Berufe ausübte, sondern stellt auch eine gewisse Art der Selbsttherapie dar.
Dieser autobiografische Roman ist durch seinen abwechslungsreichen Schreibstil und seine teilweise drastische Darstellung ein interessanter, aber sicherlich auch kontroverser Beitrag zur Autismusliteratur.
Während der Lektüre konnte ich viele und teilweise tiefe Einblicke in das Seelenleben, die Wünsche und Bedürfnisse, aber auch den Leidensdruck des Autors gewinnen.
Markus Schneider,
Diplom-Sozialarbeiter und M.H.A
Mitarbeiter bei Autismus OWL e.V.
Vorwort des Autors
Diese Erzählung, die einen Teil meines Lebens darstellen wird, ist im Grunde genommen nicht wichtig, ist fast nutzlos, so könnte man sagen: Ich war so, wie die meisten wohl sind, eher (ziemlich) normal.
Bis auf den Punkt, der mich damals so elend, so peinlich bestimmte. Ich schien auf diesem Feld wohl ein Laie zu sein, ein Mensch in falscher Vollendung.
Alle von mir offengelegten Szenen fanden schon vor vielen Jahren statt. Wobei nicht gesagt ist, dass Probleme diese Art heute eher seltener sind, wenn auch ein wenig gefärbt durch traumhafte Laptops und Smartphones und dies oder das …
Falls aber du, du persönlich, in etwa so bist, wie ich es einmal war. Wenn du dich sehnst, nach der ersten Umarmung, dem ersten Kuss deines Lebens, und traust dich zu weinen, wenn niemand es sieht, dann forschen wir beide gemeinsam in unseren Seelen (und werden es keinem andern erzählen).
Einstieg
Nein, sie war durchaus nicht elegant und vornehm, jene im Zentrum von Aachen gelegene Straße. Sie war anders, eher fade, eher kalt. Mit Häusern, die oft wie abrasiert wirkten. Die wie Klötze dicht beieinanderstanden, versehen mit blätterndem Putz, mit Farben in seltsamen Tönen, in Gelb, Braun und in störendem Schwarz. Nein, es gab keinen Grund, diesen Weg zu betreten. Er war halt nicht meine, fast kindliche Welt.
Bis sich nach etlichen Wochen durchaus auch ein winziger, peinlicher Mut in mir zeigte, bis das Zögern sich traute zu fragen: „Victor, wäre es nicht hilfreich für dich, endlich aktiver zu werden? Nicht nur ewig zu warten, zu hoffen, zu träumen, ganz ohne Erfolg. Du brauchst auch die Hilfen leicht anderer Art. Vertraue dir, Victor. Du hast es verdient!“
Am Morgen schien mir diese seltsame Straße eher grau und ungeschminkt. Sie lag müde im kommenden Licht. Nur zwei oder drei Frauen standen vor den Türen einiger Häuser, eher uninteressiert, eher langweilig, wie es mir schien. Als ich an einer der Schönen einmal vorüberging, war es nicht leicht für mich, denn ich schielte, so könnte man sagen: Das eine der Augen in Richtung der Frau, das andere ganz gerade nach vorne (was immerhin mehr war, als beide geschlossen zu halten).
„Kommst du mal mit, mein Schatz?“, fragte mich eine der Huren. Sie hauchte mit sanfter, tief süßer Stimme im recht engen Rock und fuhr dabei sanft ihre Hüfte entlang. „Mein Süßer, komme zu mir. Du magst mich doch so.“
Ich war fast schockiert in diesem Moment, da sie offensichtlich von meinen Problemen gar nichts wusste. Ganz schnell und ganz hastig ging ich vorbei an der seligen Stimme von ihr. Starr, unnahbar scheu ging mein Blick dann nach vorn, hin zum rettenden Ufer des heimlichen Wegs.
Wie schon gesagt, nur tagsüber, nur im Hellen bewegte ich mich auf verbotenem Pfad in sündiger Welt. Bis meine Schritte auch abends die Straße, den Weg meiner Hoffnung, schon einmal betraten. Denn ich lernte dazu.
Wenn die Dämmerung, wenn die Nacht ihre verbotenen Dinge preisgaben, wandelte sich der nüchterne, spröde und hässliche Weg in die Meile der leuchtenden Sünde. Und deutlich mehr Frauen zeigten ihr heimliches Wesen, die Welt der kurzen, der leiblichen Freude. Wobei im Wettstreit mit geraden, hoch dünnen Straßenlaternen sehr kleine, rötlich Lämpchen die Türen verzierten.
Eine gewisse Anzahl von Männern aller Schattierung wanderte nun die Meile entlang. Jedes Alter, jede Erscheinung war da, durchaus auch die ´klugen´ Studenten. Etwas einfältig wirkten dagegen die anderen Wesen vom Lande, wie ich, wie der seltsame Victor ja auch. Wenn sie aber in Gruppen kamen und, wie es schien, ein wenig betrunken dabei, hatten gewagte Witze den Vorrang für sie: „Na, du Katze, du Maus, du Mäuschen für mich …!“
„Na, ihr Männer, ihr süßen Studenten. Braucht ihr ein Püppchen für euch?“, war die zwinkernde Antwort im recht kurzen Rock.
Nun ja, man lernte dazu. Ich fing ja erst an.
War der mutige Kunde aber alleine, war solo, fehlte in der Regel erotischer Humor. Der einsame Mensch blieb hier und da stehen, immer und absolut ernst. Schaute die Frau seiner Hoffnung mit Kennerblick an. Und ging weiter. Und stand erneut. Schließlich näherte er sich der kleinen, der schönen Blondine. Ein gewisses typisches Wechselspiel fand nunmehr statt, ein mit Nicken gefülltes Sich-Bekanntmachen, ein distanziertes Sich-Näherkommen sozusagen. Die Verhandlung dauerte in der Regel nicht lange, vielleicht zwanzig Sekunden. Und gemeinsam folgte der Gang ins Haus der käuflichen Sünde … ins Bett der kürzesten Freude der Welt.
Oder aber die ´Verbindung´ hatte nicht geklappt. Was dann? Sollte das gleiche Stück noch einmal ablaufen, nur vor der nächsten Kulisse? Oder stand ein Verlassen der heiligen Straße bevor?
Ein Leben der fehlenden Liebe schien nicht so einfach zu sein. Aber das wusste der Victor ja schon.
So war dieses Feld, das mir seit geraumer Zeit zwar nicht gierig und lustvoll, aber, wie ich schon sagte, leise und mahnend erneut auf die Schulter klopfte: „Probiere das endlich einmal, lieber Victor. Hier gibt es keine Blamage. Du zahlst. Sie liefert die Ware. So ist das … oder könnte zumindest so sein …“
Es war diesig, tief herbstlich und kühl an jenem Morgen. Fast wollte die Stadt, so schien es zumindest, sich nicht zur gewohnten Arbeit aufraffen. Erst links, dann gerade nach vorn. Wie im Traume kannte ich mich nun schon in der Innenstadt aus. Ich hätte die Straße fast mit verbundenen Augen gefunden.
Nein, ich zitterte keineswegs. Mir war anders zumute als vorausgeahnt: Ehrlich und brav, so werde ich sprechen. Nicht aufschneiden wie die gewöhnlich dort zahlenden Männer, die Gäste der Lust. Ich würde ihr einfach und ruhig mitteilen, wie und was meine Lage nun ist. Nicht mehr und nicht weniger auch. Wir sind nicht völlig privat beieinander. Und sie, was meint sie dazu?
Nun ja, sie ist eine Frau. Ihr persönliches Einsehen zeigen und ihn in die hohe Kunst der körperlichen Liebe führen.
Oh ja, alle Raffinessen kannten diese Huren, ganz sicher. Außerdem könnte die Heilung des Kranken recht zügig vonstattengehen. Eine halbe Stunde vielleicht, kaum mehr. Und gleich Phönix aus der Asche würde ich dann gestärkt und erfahren, überlegen den Schritt zurück in den Nebel des Morgens tun. Wie auch später in meinen wippenden Kreis. „Bist du sicher, mein Victor?“
Ich war alleine an diesem Tag. Ich war der einzige Mensch weit und nah. Geschlossen die Türen und zu alle Fenster. Nichts regte sich. Es schien fast ein früher, ein friedlicher Sonntag zu sein. Wie um Himmels willen sollte ich da eine der Huren ansprechen, wenn diese sich in ihren Etablissements versteckt hielten. Wenn sie ihre wohlverdiente Ruhe, nach erledigter Arbeit, genießen konnten. Wohnten sie wirklich hier?
Etwas unsicher, fast, darf man sagen, verlegen wurde ich schon. Aber zum Donnerwetter, hier und jetzt muss es doch sein! Jetzt, wann denn sonst?
Einmal die Straße nach dort, und einmal den Weg dann zurück. Nicht zu langsam, und zu schnell erst recht nicht. Ich könnte glatt auffallen und womöglich als Anfänger erscheinen. Obwohl der Vorsatz, mich als solcher im Vorgespräch darzustellen, meine eigene wirkliche Absicht doch war.
Auf etliche der seltsamerweise völlig leeren Klingeln schaute ich. Machte wiederum kehrt und drehte erneut. Niemand war mein Gefährte in stiller, in einsamster Straße. Als plötzlich, ganz unvermittelt, fast störend sich eine der Türen öffnete. Eine Frau kam heraus, ganz normal und mit rotbraunen Haaren. Nicht zurechtgemacht, nicht mit verlockendem, kurz-engem Rock. Eine mitteljunge Person, nur mit einem, kleinen, winzigen Fehler an einem der Zähne. Sie sprach mich nun an. Nicht ich, der ich es doch wollte.
„Hallo, werter Herr, junger Mann, du fällst mir irgendwie auf“, sagte sie. „Ich meine, du bist hier schon dreimal vorbeigegangen. Suchst du etwas bestimmtes, vielleicht eine Kollegin von mir? Ich kenne mich aus in diesem Gebiet.“ Sie schmunzelte und nickte dabei verführerisch. „Komme einmal ein bisschen herein, einfach so. Es ist wärmer bei mir als hier auf der Straße. Hast du Lust dazu?“
„Nein, ich wollte … ich meine vielmehr, dass ich nach einigen Dingen dich einmal fragen darf.“
Sie ging voraus in dem engen, länglichen, rötlichen Flur. Ganz bis zum Ende. Wie eigenartig seltsam kam es mir vor. Keineswegs erblickte ich die in meiner Fantasie erhofften erotischen Dinge. Etwa schärfere Poster im geilen, lustig ironischen Ton. Nicht seltsam geformte und komisch gestaltete Möbel, samt sündigem Lager schauten mich an. Wenngleich ein roter, sanft weicher Teppich den Boden verzierte. Auf ihm berührten sich schwingende, goldene Spuren und gaben sich liebend, symbolisch die Hand. Von oben jedoch schauten silberne Kettchen mit goldenen, blutroten Sternchen ganz still auf uns beide herab.
Wie seltsam, wie niemals erwartet war ihr Zimmer für mich. Es bot nicht die käufliche Liebe, so wie erhofft. Wie befürchtet? Eher verträumt, romantisch schien es zu sein. Allerdings, nun ja, mit einem breiten Bett exakt in der Mitte, dem unverzichtbaren Lager. Es war aber deutlich verlängert, es schien fast verdoppelt.
Wir beide sahen einander verwundert an, den Mund dabei ein wenig geöffnet. Aber nicht Sie, nicht die Hure von mir. Nein, ein Mensch, fast wie ich, sah mir tief in die Augen. Ein wenig erstaunt fragte ich: „Mein Freund, du seltsamer Victor, bist du oder bin ich an der Reihe?“
Völlig sicher schien ich durchaus nicht zu sein. Der wunderbare, umrahmte Spiegel, der die Farbe des Zimmers ein wenig ins Rötliche wies, hätte mich fast in eine andere Welt geführt. Es musste aber hier, und dabei bitte real stattfinden. Die Zeit des Engels war schließlich vorbei.
„Setze dich doch“, meinte die Frau, während sie mir einen dunklen, roten Sessel anbot. „Ich heiße Katja. Willst du den Kaffee? Etwas anderes vielleicht?“
Ihre Stimme war tief und ganz sanft. Sie kam nicht künstlich und hauchend daher, wie ich es erwartet hatte. Ihr Klang war beruhigend, vertrauenerweckend vor allem. Bei all dieser Weichheit, bei einleitend belanglosen Themen, die dunkler Jahreszeit, den nahen Advent, über dieses und jenes, kam plötzlich abrupt etwas Neues hinzu. Zwei deutliche Sätze von ihr: „Ich nehme übrigens, du siehst das wohl ein, zweimal zehn Mark. Wenn du sie vielleicht hier auf den Tisch legen würdest.“
„Zwanzig Mark? So viel? Bist du sicher? Kann das denn sein?“
Wieso fragte ich so komisch? War es nicht klar, dass die Sache nicht ganz ohne Geld, die Pflicht einer Seite zur Bezahlung, ablaufen konnte? Ich schien leicht unsicher zu sein in diesem Moment.
„Das ist immer so, junger Mann“, meinte sie, während ich zwei blaue Scheine in ein kleines, silbernes Döschen legte, das schnell im Tisch dann verschwand.
„Wie spreche ich dich denn an, mein Schatz?“, fuhr Katja nun wieder freundlich, fast liebevoll fort. „Ich habe irgendwie das Gefühl, du bist recht selten bei uns gewesen? Oder noch nie? Bei keiner Kollegin, wo auch immer, habe ich recht?“
„Also, der Victor, das bin ich wohl selbst“, war meine Antwort nach kurzem Denken, ob ich ihr nun ganz ehrlich oder doch lieber vorsichtig antworten sollte. „Sieht man das wirklich? Ich meine, spürt man, dass ich noch bei niemandem, noch bei keiner von euch war. Komme ich wirklich so peinlich daher, oder woraus schließt du das, du Katja, von mir?
Sie lächelte ein wenig. Legte den Kopf leicht schief und hob langsam und weich ihre Schultern. War sie unsicher, wusste sie es nicht?
Ich sagte: „Also, Katja, ich bin wirklich zu dir gekommen. Ich meine gekommen, um nun auch zu lernen, ganz einfach so.“
Sie schwieg. Es war still nun im Raum, stiller noch als auf der nahen, der einsamen Straße. Nur eine Uhr tickte. Einem bestimmten Wartezimmer ähnlich.
Die Frau sah mir ins Gesicht. Sie sah mir voll und direkt in die Augen, während ihre Hand sich ganz leicht auf meine nun legte, die auf der runden, der schmiegsamen Lehne verharrte.
Ein Schauern, ein Zittern durchlief meinen Körper. Und es war mir, als bäte ich heimlich darum, dass diese Frau, die jetzt neben mir saß, die so anders war als erwartet, dass sie die meine nun werden möge. Jetzt und hier, einfach die meine.
„Man kann es so deutlich, so überdeutlich sehen, lieber Victor“, sagte sie plötzlich. „Du sitzt hier so steif. Dein Körper, die Arme, die Hände sind fest … Nein, dein Blick scheint nicht die Liebe, die Erotik zu suchen. Er will nicht das Abenteuer. Er schaut doch so zart … Wie schön ist das, wie traumhaft, mein Junge.“
Sie atmete deutlicher, hörbar und tief. Es klang wie ein Seufzer an eine, die frühere Zeit. Ich spürte es. Und während ihre Augen für eine kurze Weile ins Leere zu träumen schienen, meinte sie langsam, fast nachdenklich still: „Endlich kommt jemand, endlich ein Mann, der es nicht zum tausendsten Male will. Endlich einer, der nicht den Clown vor mir spielt. Der nicht dauernd den Prahlhans, den Wichtigen, den Mann mit Komplexen darstellt. Ja, Victor, du bist nicht wie sie. Nicht so, weil du so hilflos anders bist als die Dutzendware, die hereinkommt. Und die schnell und grinsend dann wieder geht. Ich bin das so satt, weißt du. Ich würde lieber ganz woanders sein, weit weg von hier. So ist das, mein Victor.“
Sie zündete sich eine Zigarette an. Und auch ich griff zu.
„Wo möchtest du sein, liebe Katja? Ich meine, wo wärst du nun gerne?“
Ich fragte fast wie ein kleiner Junge, so schien es mir plötzlich. Es war anders für mich. Ich war nicht mehr in der Straße, im Wege der Sünde. Träumte ich wohl? Ging die Zeit ganz plötzlich zurück? Kehrte sie wieder, die seltsame Kindheit von mir? Sprach der Bruder und schimpfte die Mutter erneut?
„Mein Freund, erzähle mir doch etwas von dir“, sagte sie plötzlich, „Ich habe Zeit heute Morgen. Es treibt uns keiner, bist du bereit?“
Sie lehnte sich langsam wieder zurück, blies den Rauch ganz zart und ganz fein aus den ungeschminkt süßen, ganz weichen Lippen nach oben.
Und dann begann ich ganz langsam zu reden, der Victor, das seltsame Kind. Tastend, als dürfe, als wagte ich nicht, der Frau womöglich zu viel zu gestehen, und schloss ein wenig die Augen, fast wie im stillen Gebet.
Oh ja, ich war ängstlich, war unsicher in diesem Moment. Sollte, ja durfte ich denn so tief in mein Selbst hinein gehen? Sollte ich mich nicht im Grunde erneut schämen, wie schon so oft in meinem Leben?
Es war aber so, wie von mir nicht erwarte. Die Sehnsucht, die äußere Liebe, das Sehnen nach Haut, der Stunden zu zweit, sie versanken im Nebel, denn mein frühes, peinliches, elendes Hoffen, Leben, es wagte sich vor. Es kehrte zurück?
Nein, ich wurde mit einem Male ein wenig mutiger und sprach nun eher flüssig und unbefangen. Gleich einem Jungen zur anderen Mutter. Der sanften, der milden, der anderen, richtigen Mutter. Eine, die mich nicht so oft beschimpft hatte, die mir nun lieb und ernst zuhörte. Sie lauschte, als sei ich ihr eigenes Kind, ihr eigener Sohn, den sie trösten durfte, durch den tiefen Blick in die Augen von mir. Und ich, der Junge von ihr, stieg hinab in den Brunnen der eigenen Zeit, so wie niemals im lustigen, traurigen Leben zuvor.
Sie sah mich ganz nachdenklich an, als ihr Streicheln die Quellen des Weinens befreite. Die Augen von ihr, sie schmolzen das Eis, der Schnee all der Jahre floss lieb und so glänzend aus meiner Seele zu ihr, deren Finger ganz sanft meine Tränen berührten, die der Trost mir reichte wie niemals zuvor. Und viele der Menschen von damals entstiegen der Zeit.
Ich schaute sie an und sprach dabei anders zu ihnen als jemals zuvor. Die schüchterne Angst, sie schien nun beendet zu sein, hier, nur bei ihr in der stillen Umgebung legte ich Katja, der Freundin, mein dummes, vergebliches Sehnen zu Füßen, gestand ihr alleine die sehnliche Sucht.
Ich weiß es nicht mehr, wie lange ich damals geredet hatte. Ich setzte mich aber ein wenig gerade hin und schien jetzt auf einen Satz von ihr, von Katja, zu hoffen.
Doch sie blieb ganz ruhig. Sie schwieg. Sie sah mich nicht an. Sie schien ganz woanders zu sein. Wartete Katja vielleicht auf irgendetwas bestimmtes von mir, ein Erlebnis, das ich vergessen hatte ihr zu erzählen? Ihr Zittern der Hände fiel mir jetzt auf. Ihr Atem war schnell. Sie schien sich nun nicht mehr zu trauen, wieder mit mir zu sprechen. Ich begriff es nicht. Ich wurde in diesem Moment recht unsicher, fast scheu.
Doch plötzlich kam eine Frage, die seltsame Frage von Katja an mich: „Victor, darf ich dir etwas sagen?“
Es waren seit Langem ihre ersten Worte, seit fast mehr als einer halben Stunde. Ihr Kopf ging wieder ein wenig zur Seite, als schaute sie in die eigene Welt. Sie schien fast verlegen zu sein, die Augen halb zu.
„Victor, versprichst du mir ehrlich, ganz sicher, es schnell zu vergessen?“
Ich wusste keine rechte Antwort auf diese so seltsame Bitte.
„Katja, ich tue das, was du möchtest“, sagte ich daher, fast schon wieder gehorchend, und legte die eigene Hand auf die weiche von ihr auf der anderen, schmiegsamen Lehne. Ich wagte sie zu berühren, wie niemals im Leben zuvor. Wobei ich nun fühlte, dass Katja ein wenig zuckte. Ist sie womöglich erschrocken, ging es mir durch den Kopf. Hat sie wohl Angst, Angst nun vor mir? Katja, vergibst du mir dann?
Doch anders, ganz anders als jemals zuvor, schon fast nicht mehr in der Welt, sagte Katja ganz schamvoll nur zu sich selbst: „Victor, ich liebe dich so.“
Die tiefblauen Augen, ganz starr in diesem Moment, sie blickten mich an. Sie schienen so groß, sie waren so seltsam wie niemals zuvor. Ihr Atem war tot. Es war nicht mehr Katja, die neben mir saß.
Wir beide schwiegen eine Weile und wagten keine Bewegung. Nicht sie, und nicht ich. Es war nun still im Raum. Nur eine Uhr tickte ganz leise.
Nur wenige Sekunden dauerte diese absolute Veränderung von Katja. Bis sie plötzlich, schnell und hart, ihre Hand von mir zurückzog. Und wieder saß Katja ganz still, saß stumm wie ein steinernes, tief starres Bild. Bis sie mit langsamer, immer wieder unterbrochener Stimme fast eintönig hauchte: „Victor, er hatte mich immer geschlagen … Warum, ich weiß es nicht mehr … Victor, kannst du es mir sagen? Dann hilf mir doch bitte.“
Ganz seltsam sprach Katja in diesem Moment, so wie ich es bisher niemals erlebt hatte. Fast unverständlich klangen die Worte. Sie flüsterte still, als sei sie allein auf der Welt. So klein und so einsam schien sie mir jetzt, fast so, als wollte sie nun nicht mehr leben …
Das war mein Versuch der Entwicklung. So war meine völlig anders erwartete Begegnung mit ihnen, den ältesten Spuren der Welt. Ich hatte gewagt, mich mit einer in der Hierarchie so tief stehenden Frau zu treffen. Und hatte mich trotzdem ganz anders gefühlt als mit je einem anderen Menschen zuvor. Katja, die Frau in der stillen Straße, am dunstigen, nebligen Morgen, sie wusste am Ende mehr als alle zuvor. Dabei hatte die Szene weit über die von mir entrichtete Bezahlung gedauert …
Und was war mit dem Schlafen? Dem Akt der körperlich-seligen Liebe, um die sich, neben dem Geld, die ganze Welt schließlich dreht? Wie fühlte sich Katja an, auf ihrem doppelten, rotwarmen Bett? Wie weich waren Brüste, die Schenkel und letztlich der allerpersönlichste Bereich, wie man sagt? Ich sollte diese zumindest erzählen. Vor allem, weil die Sache ja endlich konkreter zu werden verspricht …
Nein, ich musste an dieser Stelle schon wieder den ungeduldigen, wenn auch nachvollziehbaren Vorwärtsdrang in seine Schranken weisen. Ich musste die Tugend der Hoffnung, die schönen, bisweilen auch faden Gefühle erneut wieder bremsen. Nein, es kam zu keinem Streicheln, dem wahren ersten Kontakt, an jenem trüben Novembermorgen. Ich blieb (nur zum Teil) wie ich war.
Katja sah abrupt und erschrocken auf ihre Uhr. Schon im Aufstehen begriffen sprach sie wieder ganz normal, ganz sachlich: „Es tut mir leid, lieber Victor, ich muss mich jetzt unbedingt umziehen, und dabei auch ein wenig schminken. Das mögen andere Männer ganz gern. Weißt du, ich habe gleich einen Termin, einen Hausbesuch sozusagen. Das gibt es durchaus. Ich würde sagen, für Frauen, die vielleicht etwas besser betucht sind als arme Studenten. Es gibt davon mehr, als du ahnst. Ab morgen bin ich leider für zwei Wochen nicht mehr erreichbar, nicht mehr zu buchen, wie man wohl sagt. Insgesamt liegt die Sache terminlich etwas unglücklich für dich. Aber ich verspreche dir, wenn du mich in vierzehn Tagen anrufst, mache ich mit dir einen neuen, realen Termin aus, eine Prüfung für zwei. Ein Treffen hier, im spiegelnden Bett meiner traurigen Freunde. Ganz sicher. Abgemacht, Victor?“ Und lächelnd fügte Katja hinzu: „Du brauchst beim nächsten Male auch nichts, auch gar nichts zu zahlen.“
Da war mir, als hätte ich in diesem Augenblick eine Freundin gewonnen. Die erste, die erste Frau meines Lebens. Eine sicherlich nicht ganz meinen Vorstellungen entsprechende, eine endgültige womöglich auch nicht. Aber doch eine Frau, ein Mensch des träumenden Liebens. War so das Ende des Wegs? War ich am Ziel, hier, wo ich es keinesfalls vermutet hatte?
Wir umarmten uns an der Tür. Dabei lehnte sie den von mir angebotenen Kuss deutlich ab. Sie verhinderte ihn durch ein gewisses Drehen des Kopfes, irgendwie recht gekonnt und doch elegant. So war es mein Eindruck. Aber was sollte das schon heißen, für die Zukunft von mir. Ich würde mich in zwei, in drei Wochen ja wieder melden …
Dass es aber nie wieder zu diesem Treffen bei Katja kommen würde, ahnte ich in diesem so hoffnungsvollen, so melancholisch streichelnden Augenblick noch nicht. Es war unser erstes und es blieb unser einziges Treffen. Wieder sollte es so sein, wieder einmal. Aber wie oft, wie oft denn noch, liebe Katja?
Ja, sie wird ihren Dienst in der Straße der Sünden pflichtgemäß wieder aufgenommen haben, nach den zwei, drei kurzen Urlaubswochen. Waren es solche denn wohl? Sie wird vielleicht noch einmal an jenen seltsamen, jungen Victor gedacht haben, wenn ein anderer Mann sie ´betrog´.
Nein, Katja war nicht der fehlende Grund meines zweiten, des ´hoffenden´ Treffens. Nein, ich selbst kam nicht mehr, ein Mann, der sie doch so dringend brauchte. Einer, der vom Glück dieses Zufalls hätte schwärmen müssen.
Und warum stieg er aus? Wieso griff er nicht zu, als sein Fortschritt ganz deutlich ins bessere wies? Als im eigenen Garten die Knospen zu sprießen begannen.
Nein, es war ein anderer, wichtiger Grund, so könnte man sagen.
Teil 1 Geburt einer Sehnsucht
Kapitel 1 Du heimlicher Engel
Ich weiß es nicht mehr, in welchem Jahr diese frühe, glückliche und zugleich so traurige Szene an mich herangetreten war. Ich weiß nicht mehr, wie der Himmel sich an jenem Tag zeigte, damals am flachen Niederrhein, meiner Heimat von einst. Wärmte die Sonne ganz mild und streichelnd die Haut noch einmal? Wehte das tiefe Blau des herbstlichen Tages durch die Weiden am Rande der Flüsse? Standen die Finger von Kirchen still mahnend und schwarz am Ende der Welt, der unendlich weiten, so leeren Felder? Viel Zeit ist verflossen seither.
Und doch, und ehrlich betrachtet, ist er mehr als verschwunden, dieser Tag jenes seltsamen, kaum nachvollziehbaren Augenblicks. Ist er völlig verloren für alle Ewigkeit?
Wie eigenartig: Ich schweige und schließe die Augen dabei, und die Szene des seltsamen Tages schwebt lautlos ins Dunkel herein, denn der Zweifel, er weicht, ich bin mir ganz sicher!