Bernd Bobert: Street Music und die Saiten des Lebens/Leseprobe

Intro

 

Es ist Ende Juni und höchste Zeit für Antonio die Stadt zu verlassen.

In Vorbereitung auf den Trip an die Ostsee, besorgte er sich einen dunkelblauen Peugeot 406 Kombi.

Die Wahl fiel auf dieses Auto, weil er damit glückliche Kindheitserinnerungen verbindet. Der Peugeot war das erste eigene Auto seiner Mutter. Als ungefähr zehnjähriger Junge erschien ihm dieses Fahrzeug wie eine Festung, mit seinem riesigen Innenraum und den Sitzen, die Fernsehsesseln glichen. Zudem erinnerte er sich an den großzügigen Kofferraum, in den er sich fast vollständig hineinlegen konnte.

Für das, was er vorhat, reicht es ihm, die Rücksitze umzuklappen und eine Matratze zum Schlafen hineinzulegen. Alles andere, wie Toilettengänge, duschen oder essen, könne er auch an Tankstellen erledigen, weshalb er sich gegen einen Bus entschied.

Die Untervermietung seiner Wohnung organisierte Antonio Anfang des Monats. Er wählte eine junge Frau. Sie wollte den unbestimmten Zeitraum, in dem Antonio weg war, nutzen, um für sich eine eigene Bleibe in der Stadt zu finden. Für das Hüten seiner Wohnung ist sie wie gemacht. Sie ist ausgebildete Laborantin, raucht nicht, trinkt in Maßen und scheint keine Lust darauf zu haben, jeden Abend die besten Partys abzugreifen. Die Gefahr, dass seine Bude im Chaos versinkt, besteht also nicht.

Außer seiner Crafter Westerngitarre, seinem Roland Mobile-AC Akustikverstärker und dem Nötigsten, was er für den Alltag braucht, überlässt er ihr alles.

 

Antonio betätigt die Zündung seines Peugeot und spürt mit dem tiefen Vibrieren des Motors die Vorfreude auf das, was vor ihm liegt.

 

Kapitel 1

 

Die erste Stadt, die Antonio nach einer ermüdend langen Autofahrt erreicht, ist Rostock. Es ist kurz vor halb vier. Er hat also noch genügend Zeit, das Zentrum aufzusuchen und Straßenmusik zu machen, bevor die meisten Läden schließen. Unruhe steigt in Antonio auf. Er fragt sich jedes Mal, ob sein Lampenfieber pathologisch ist oder eine banale Normalität besitzt. Denn kurz bevor er seine Musik präsentiert, ganz gleich wie groß die Bühne ist, wird in ihm die Stimme der Angst geweckt. Er hat vor einiger Zeit ein Zitat gelesen, das ihm in diesen Gefühlslagen Mut macht: In dir muss brennen, was du in anderen entfachen willst.

Was wäre auch die Musik ohne emotionale Intensität? So sind es doch gerade die Gefühle darin, um die es geht.

Er beendet seinen inneren Dialog, sucht sich eine freie Parklücke und stellt den Motor ab. Er flüstert ein leises: „Dankeschön“ und klopft mit der Hand auf die Armaturen seines Peugeot, als wäre er ein guter Freund. Antonio öffnet die Fahrertür und steigt schwungvoll ins Freie. Er richtet seinen Blick gen Himmel und atmet tief ein und aus. Noch heute Abend wird er am Meer stehen.

Im Allgemeinen gelten für Straßenmusiker folgende Regeln: Erstens, kein Instrument (dazu zählt auch die Stimme) darf elektronisch verstärkt werden. Des Weiteren darf ein Platz nur dreißig Minuten lang bespielt werden. Danach besteht die Pflicht, sich einen neuen Ort zu suchen, der einhundert Meter von dem alten entfernt ist.

Für die Einkaufspromenade der Kröpeliner-Tor-Vorstadt von Rostock benötigt Antonio auch keinen Verstärker. Die hohen Mauern der sich gegenüberliegenden Geschäfte sind hervorragende Resonanzkörper. Die Klänge der schwingenden Stahlsaiten der Gitarre und seines Gesanges werden klar und deutlich zu hören sein.

 

Gegenüber eines Buchladens von Hugendubel bleibt Antonio stehen. Er legt den Gitarrenkoffer nieder und öffnet ihn. Darin befindet sich alles was er braucht. Er drapiert sechs seiner CDs. Daneben legt er einen kleinen goldenen Aufsteller. Auf ihm steht geschrieben, dass er sich für jeden Kauf seiner CD herzlichst bedankt. Auch wenn er gerne seine Musik verschenken würde, unterliegt er jedoch, wie alle anderen, den Spielregeln des Kapitalismus. Zehn Euro pro Stück erscheinen ihm angemessen, da er viel Geld für eine professionelle Aufnahme in einem Tonstudio gelassen hat. Flyer dürfen natürlich auch nicht fehlen, für jeden, der keine CD kaufen möchte, aber dennoch interessiert ist, mehr über Antonio zu erfahren. Einem kleinen Fach des Gitarrenkoffers entnimmt er Kapodaster und Plättchen und legt sich seine Gitarre über die Schulter. Er beginnt mit einem Lied, das von einem Straßenmusiker handelt. Er hatte es geschrieben, bevor er wusste, dass er eben dieser werden würde.

 

Für Antonio ist es wichtig, das meiste drum herum auszublenden und sich ganz und gar in das Lied hinein zu fühlen. Auch wenn er es schon einhundertmal gespielt hat, soll es so wirken, als wäre es das erste Mal. Und während er singt, verschwimmt die Umgebung. Er konzentriert sich auf die Kraft seiner Stimme und auf den Rhythmus, der nicht zu schnell sein darf. Innerlich schickt er ein kleines Gebet gen Himmel, dass er darauf vertraut, dass alles so sein soll, wie es ist. Er beginnt sich geborgen zu fühlen, trotz der vielen Menschen, die ihn umgeben und die nicht darum gebeten haben, ihn hier und jetzt spielen zu sehen.

Aus einem Geschäft schräg gegenüber tritt eine Verkäuferin. Sie mustert ihn und lehnt sich an einen Kleiderständer voller Jacken. Sie ähnelt plötzlich den Schaufensterpuppen ihres Ladens. Ab und zu verschwindet sie im Inneren des Geschäftes, nur um dann nach einigen Minuten die gleiche Position am Kleiderständer einzunehmen und Antonio weiter zu beobachten.

 

Plötzlich zupft es an Antonios Hosentasche.

Erschrocken blickt er nach rechts und sieht einen Mann. Dieser klopft Antonio beherzt auf die Schulter und grinst. Genauso schnell, wie er gekommen war, verschwindet er wieder. Perplex schaut Antonio ihm hinterher. Doch der Mann dreht sich nicht mehr um. Antonio kann der Neugier nicht widerstehen und bricht das Lied ab. Er greift in seine Hosentasche und zieht einen bräunlichen Schein heraus. Antonio ist verblüfft. Dieser Mann hatte ihm soeben fünfzig Euro geschenkt. Antonio schaut geradewegs zur Verkäuferin, als könne sie ihm erklären, womit er das verdient hat. Sie lächelt zufrieden, als würde sie sagen: Willkommen in der Stadt Fremder.

 

Antonio verstaut seine Gitarre in seinem Auto, startet den Wagen und begibt sich nach Warnemünde, um den Tag ausklingen zu lassen. Für heute ist er mehr als zufrieden. Dass ihm jemand auf einen Schlag so viel Geld zukommen lässt, hätte er im Traum nicht für möglich gehalten. Insgeheim freut er sich aber am meisten über die junge Verkäuferin. Sie verlieh ihm Selbstvertrauen und mit dem Selbstvertrauen kam die Leichtigkeit im Spiel. Und diese Leichtigkeit übertrug sich auf die Menschen um ihn herum.

In Warnemünde stellt Antonio sein Auto ab und nimmt den erstbesten Aufgang zum Meer. Er beugt sich hinunter, öffnet die Schnürsenkel und zieht seine Schuhe aus. Der Sand ist warm, weich und strahlend weiß. Antonio setzt sich auf eine Düne und schaut aufs Meer. Etwas fehlt und es fehlt schon länger.

 

 

Kapitel 2

 

Am nächsten Morgen sucht Antonio zunächst eine Tankstelle auf. Dort geht er duschen, trinkt einen Kaffee und kauft ein paar Lebensmittel ein.

Antonio überlegt, wie er seinen Tag als Straßenmusiker strukturieren möchte. Am Vormittag wird er in Warnemünde spielen und am Nachmittag erneut in Rostock sein Glück versuchen. Schon jetzt hat er das Gefühl, dass ihn die Macht der Gewohnheit ergriffen hat, da er sich vorstellt, dass genau das Gleiche wie am Vortag passieren könnte, natürlich ohne jemanden, der ihm wieder fünfzig Euro zusteckt. Vielleicht tritt die junge Verkäuferin aus dem Laden und bewundert ihn. Vielleicht versetzt er von Neuem Kinderaugen in Staunen und genießt dabei die gerührten Blicke ihrer Eltern. Wenn er wieder ein paar seiner CDs an den Mann bringt, wäre auch dieser Tag ein Erfolg auf ganzer Linie. Dann würde er erneut in Warnemünde auf einer Düne sitzen, mit dem Blick aufs Meer und die Stimme ignorieren, die ihm sagt, dass etwas fehlt. Antonio fragt sich, ob es jedem Menschen so geht, ob vielleicht jedem Menschen etwas fehlt.

 

Da sich auf der Promenade in Warnemünde nur vereinzelt Geschäfte befinden, hat Antonio seinen Verstärker im Gepäck. Er lässt sich an einer Bank nieder, die ungefähr in der Mitte der Promenade platziert ist und baut sein Equipment auf. Antonio hat das Spielen und Singen über diesen kleinen Fünf-Watt-Amp sehr zu schätzen gelernt. Niemand, der dieses kleine Gerät sieht, ahnt, wie leistungsstark es ist. Mit seiner Hilfe kann er stimmlich sehr viel besser variieren. Auch die leisesten Passagen seiner Texte sind klar und deutlich zu verstehen. Antonio checkt die letzten Einstellungen und wirft einen prüfenden Blick in seinen Gitarrenkoffer. CDs und Flyer sind gut sichtbar und die Münzen, die er vor jeder Session hineinlegt werden, sind gut verteilt.

 

Inmitten des vierten Liedes setzen sich drei Jugendliche unweit von Antonio nieder. Es wundert ihn, da sie zu dieser Uhrzeit doch in der Schule sein müssten. Aber er wird sie darauf nicht ansprechen, denn er mag es selber nicht, in eine Rechtfertigungsposition gebracht zu werden. Er beendet sein Lied, schaut zu ihnen und begrüßt sie mit einem freundlichen: „Hey!“

Alle drei sehen aus wie kleine Punks, die viel zu weich für diese funktionelle Welt sind. Das eine Mädchen greift in ihre Bauchgürteltasche und holt den Tabak American Spirit hervor. Ohne dass sie die anderen fragt, oder von den anderen gefragt wird, dreht sie den beiden eine Zigarette und überreicht sie ihnen kommentarlos, als würde es sich von selbst verstehen. Antonio fühlt sich von den dreien inspiriert, einen gesellschaftskritischen Titel von sich zu spielen. In ihm geht es um falsche Individualität, um andauernden Stress durch Menschenmengen und um Geld, das selbst jeden Hippie zu einem Bonzen macht.

Während Antonio singt, ziehen die Jugendlichen genüsslich an ihren Zigaretten, und Antonio spürt, wie sie sich auf seine Musik einlassen. Kaum eine Regung geht von ihnen aus. Nur ihre Hände, in denen sie ihre Zigaretten halten, schweben regelmäßig auf und ab. Mit dem Schlussakkord beginnen alle drei zu applaudieren. Das Mädchen, das für die anderen die Zigaretten gedreht hatte, holt erneut den Tabak hervor und hält Antonio diesen anbietend hin. Antonio lehnt dankend ab, denn das Rauchen hatte er vor ein paar Monaten aufgegeben und war froh, dem Verlangen mittlerweile widerstehen zu können.

Das Mädchen lächelt und sagt: „Dann rauche ich für dich eine mit.“

Die drei hören noch eine Weile zu, und für Antonio fühlt es sich an, als wäre der morgendliche Gig für sie reserviert gewesen.

 

Die Autofahrt nach Rostock verläuft zügig, auch wenn die Verkehrsdichte relativ hoch ist. Nachdem Antonio eine Parklücke gefunden hat, verschließt er sein Auto, schnappt seine Gitarre und geht zügigen Schrittes gen Innenstadt. Im Vergleich zu heute Morgen hat der Gitarrenkoffer wesentlich an Gewicht zugenommen. Ein gutes Zeichen. Oft bemerkt Antonio gar nicht, wie viel Kleingeld hineingeworfen wird, wenn er in sich vertieft spielt. Ihm wurde mal gesagt, dass man mehr verdienen würde, wenn man die Leute während des Musizierens ansieht. Antonio selbst findet diese Art jedoch aufdringlich. Er möchte, dass die Leute nur dann geben, wenn sie auch wirklich wollen.