Marlis Stiebich: Die mitreisende Ehefrau/Leseprobe

Über dieses Buch

Die Verhältnisse in der DDR der 70er und 80er Jahre ließen normalerweise keine Reisen in das westliche Ausland zu. Eine junge Familie bekam dennoch und unerwartet diese Chance durch die Berufung des Ehemannes, der als Außenhandelsmitarbeiter für das Unternehmen Carl Zeiss Jena in Mexiko arbeiten sollte. Vierzehn Tagebücher und unendlich viele Briefe, geschrieben von der Ehefrau, belegen diese Zeit des Aufbruchs in eine unbekannte Welt, um dort unter überaus speziellen Bedingungen den Alltag zu meistern. Diese unverfälschten Doku­mente wurden von der ´Mitreisenden Ehefrau´, so lautete der Status in ihrem Reisepass, schriftlich festgehalten. Das Buch zeichnet den Lebensabschnitt der Ehefrau sowie den ihrer Familie leidenschaftlich und tiefgründig auf. Offenherzig schildert sie fremde Gegebenheiten und unbeschreibliche Erlebnisse, die sie mit ihren Erfahrungen aus dem eigenen Land vergleicht, und gerät dadurch in ein Spannungsfeld zwischen Traum, Hoffnung und der schonungslosen Realität. Doch immer wieder stellt sie sich die Frage nach dem: Warum wir? War es für diese Familie Glück, Zufall oder Schicksal, dass sie vier lange Jahre in Mexiko leben durfte? Wie ´überlebte´ man damals in dem sogenannten Entwicklungsland, ohne die Kommunikationsmittel der heutigen Generation? Unter welchen Bedingungen wurde diese junge Familie über den großen Teich geschickt? Woran konnten sie sich orientieren und wo blieb die Aufklärung über das neue Land und dessen Menschen? Diese Familiengeschichte erlebt der Leser detailliert beschrieben, mit unvorstellbaren Anekdoten bestückt, lustig, auch kritisch, aber immer authentisch.

Das Leben soll kein uns gegebener,

sondern ein von uns gemachter Roman sein.

Novalis

Für meine wunderbare Familie,

die mich mit großer Dankbarkeit erfüllt.

Vier Jahre später

Schon jetzt konnte ich mehr Einstimmung auf meinen ersten und wahrscheinlich auch letzten Stierkampf kaum noch ertragen. Aber alle Signale standen auf Grün. Unter unserer Tribüne war ein unüberhörbares Fauchen, verbunden mit schrecklichen Geräuschen zu vernehmen, als wenn ein Auto wiederholt gegen eine Holzwand krachte. Einer von diesen Stieren erlebte gerade seine letzte Station, bevor er in die Arena gelassen wurde um zu sterben. In dem Moment, als der Präsident mit seinem Tuch wedelte, öffnete sich das Tor und ein wie vom Wahnsinn getriebener Bulle stürmte aus seiner dunklen Box heraus. Wie grausam doch sein Anblick war. Genauso sein blutüberströmter Nacken, in dem Spieße mit bunten Fähnchen steckten, mit denen man ihn kurz vorher malträtiert hatte. Erst rannte er verwirrt durch die Kampfbahn, blieb dann plötzlich völlig orientierungslos in der Mitte der Arena stehen, schnaubte markerschütternd und stampfte abrupt mit seinen Füßen.

Olé“, dröhnte es dabei aus allen Richtungen.

Ich beobachtete dieses Schreckensbild unter der vorgehaltenen Hand. Nur einen kleinen Spaltbreit öffnete ich meine Finger für diesen Anblick. Doch dann passierte Folgendes: Wie in Zeitlupe drehte der Stier seinen Kopf in meine Richtung. Für einen kurzen Moment schien es mir, als starrte er mich in seinem bemitleidenswerten Zustand an. Was wollen wir beide hier? Beabsichtigte er in diesem Augenblick, das von Angesicht zu Angesicht auszudrücken?

Aber zurück dahin, wo alles begann.

Aufbruch in ein außergewöhnliches Leben

Damit hatte ich nicht gerechnet, zumindest nicht so schnell. Alles begann mit jenem Moment der herbeigesehnten Schwangerschaft, die wiederum viel zu früh auf eine Fehlgeburt folgte. Aus medizinischer Sicht musste ich mir damit noch etwas Zeit lassen, mindestens zwei Jahre sollten vergangen sein, rieten mir damals die Ärzte. Dennoch, diesen unerwarteten aber erfreulichen Zustand spürte ich sofort. Immerzu schüttete er Glückshormone aus, nie enden wollend, die mir zeigten, wie froh ich darüber war. Gab es sie wirklich, die weibliche Intuition, die diese plötzliche Gewissheit zuließ? Ganz bestimmt. Bäume ausreißen, die Welt umarmen, solche Dinge hätte ich daraufhin sofort tun wollen. Zugleich konnte ich es kaum glauben, bereits viel früher als von meinem Arzt empfohlen auf Mutterglück zu hoffen. Es fühlte sich so gut an, dieses neue Leben in mir. Groß war die Freude darüber, unbeschreiblich groß. Allerdings kehrten damit auch die Bedenken und Ängste zurück, eine erneute Fehlgeburt zu erleiden. Diese schwer zu ertragende Vorstellung beherrschte mich gleich nach der freudigen Botschaft durch den behandelnden Arzt. Mit seinem medizinischen Rat legte er mir nahe, nicht noch einmal mit meinem Sport so zu übertreiben, der letztendlich Auslöser meines vorangegangenen Schicksals war. Vernünftig und achtsam sein, hieß es ab jetzt, und nicht wie vor einem Jahr davon überzeugt zu sein, dass das Basketballtraining mir nicht schaden könnte.

Mehr als zehn Jahre war ich bereits daran gewöhnt, für diesen Sport mitunter zweimal in der Woche zu trainieren. Damals ging es um wichtige Spiele, die eine besondere Vorbereitung erforderten. Natürlich machte es mir großen Spaß, mit der Mannschaft um den Sieg zu kämpfen. Basketball als Mannschaftssportart schweißt ein Team zusammen. Da gibt es kein Überlegen, ob man sich gerade gut oder eher kaputt fühlt. Wir verhielten uns wie die Musketiere: Einer für alle, alle für einen. Zugleich nahm ich mir eine meiner Mitspielerinnen zum Vorbild. Sie war ebenfalls in anderen Umständen, aber wesentlich robuster gebaut und spielte bis zum fünften Monat ihrer Schwangerschaft die bedeutenden Punktspiele voll und ganz mit. Deshalb bewunderte ich sie um ihre Courage und hatte keine Bedenken, ihr nachzueifern. Wenn ich damals auch nur geahnt hätte, wie hoch der Preis für meine Selbstüberschätzung sein würde, niemals käme ich auf die Idee, mich so zu verhalten. Allein die Natur bestimmt, wer derartige Belastungen schadlos übersteht. Ich war es jedenfalls nicht. Diese Einsicht kam leider viel zu spät. Eine Fehlgeburt wurde mir zum Verhängnis, unter der ich immens gelitten habe. Es gab und gibt keinen Grund auf dieser Welt, sich und das ungeborene Kind jemals in Gefahr zu bringen. Mit dieser Erkenntnis musste ich leben, auch wenn sie bis auf das Bitterste schmerzte. Meine Schlussfolgerung zog ich aus dieser Krise. Unter gar keinen Umständen wollte ich dieses Risiko nochmals eingehen.

Wer kann sich schon alltägliche Gefühlsschwankungen merken oder zuordnen, auch wenn sie noch so klein erscheinen? Man sollte sie zu Papier bringen, irgendwie abspeichern. Das muss ich genauestens aufschreiben, durchschoss es mich blitzartig.

Von diesem Zeitpunkt an begann ich, ohne zu zögern, nahezu zwingend, Tagebuch zu führen. Jede spürbare Veränderung, Emotionen, andere Empfindungen, Stimmungsschwankungen und sonstige Gedanken, im positiven wie auch im negativen Sinn, wurden darin ab sofort schriftlich festgehalten, um gegebenenfalls darauf reagieren zu können. Nichts anderes hatte mich dazu bewegt, meine Schwangerschaft zu dokumentieren. Alles haarklein zu protokollieren, wäre zu viel des Guten geworden, doch wollte ich mich auf das Wesentliche konzentrieren, um notfalls Einfluss auf Veränderungen nehmen zu können. Das Notieren wurde somit zu einer rituellen Handlung, tagein und tagaus. Weder mein Ehemann, Freundin oder enge Vertraute haben mich dahin gehend beeinflussen können. Es war das sogenannte Bauchgefühl, das mich spontan zum täglichen Schreiben bewegte. Und so begann ich meine Eintragungen in mein erstes Tagebuch mit dem Datum des 1. Januar 1977, niemals ahnend, dass noch weitere vierzehn Jahre der täglichen Lebensbeschreibungen folgen sollten und es unvorstellbar für mich war, auch nur einen einzigen Tag innezuhalten, oder zu pausieren. Das Bedürfnis zu schreiben, meine eigenen Gedanken und Gefühle in Worte zu fassen, das trieb mich an. Mit einer selbstverständlichen Leichtigkeit füllten sich die Seiten in diesen, meinen Tagebüchern. Sie wurden zu meinen besten Freunden, denen ich alles erzählte, Tag für Tag, Monat für Monat und Jahr für Jahr.

Unser Kind entwickelte sich laut ärztlichen Aussagen völlig normal, die üblichen Beschwerden gehörten dazu. Indessen veränderte ich mich unzweifelhaft, konnte sogar diese Zeit der äußerlichen und innerlichen Verwandlung genießen. Optisch gesehen ging es in Richtung Apfelform. Die mentale Umwandlung hielt ich jedoch im Tagebuch fest. Diese Aufzeichnungen waren nur für mich. So war bis dahin mein Plan.

In dieser für mich spannenden Phase emotionaler Gefühlsbewegungen kam mein Mann eines Tages mit einer bemerkenswerten Neuigkeit von seiner Arbeit nach Hause. Einer betrieblichen Ausschreibung folgend, wurden junge Familien gesucht, die vier Jahre im Ausland arbeiten und diese Firma repräsentieren konnten, durften oder auch sollten. Dazu gab es vorerst keine weiteren Einzelheiten, die eventuelle Hoffnungen weckten, lediglich ein Termin für die Abgabe der Bewerbungsunterlagen wurde ihm genannt. Zu diesem Zeitpunkt waren wir, mein Mann und ich, im damaligen Vorzeigekombinat VEB (Volkseigener Betrieb) Carl Zeiss Jena beschäftigt.

Die Hintergründe, die für eine Tätigkeit in einem anderen Land sprachen, waren zu dieser Zeit fast selbsterklärend. Die wirtschaftliche Anerkennung der damaligen DDR sollte durch die erhöhte Präsenz von angesehenen Unternehmen weltweit ausgedehnt werden. Im Klartext bedeutete es, eine permanente Devisenknappheit aufzubessern. In den siebziger Jahren gehörte die Firma Carl Zeiss Jena zu den angesehensten Betrieben der DDR, bereits mit internationaler Wertschätzung. Und genau diese sollte nunmehr mit einer Exportoffensive ausgebaut werden.

Schon damals stellte sich uns nur eine einzige Frage: Wieso sollten wir uns für einen Auslandseinsatz bewerben, wenn wir dafür aus ganz bestimmten Gründen sicher nicht in Betracht kommen würden?

Warum dachten wir so?

Die geforderte ´reine Weste´ brachten wir nicht mit, weshalb es für uns unvorstellbar war, dass ausgerechnet wir für einen vierjährigen Arbeitseinsatz im Ausland ausgewählt werden sollten. Da gab es einmal die Oma in Kassel und zum anderen die Tante in Hamburg. Schon alleine diese familiären Verbindungen zur damaligen BRD konnten wir nicht totschweigen. Ganz abgesehen von weiteren verwandtschaftlichen Beziehungen, sowie uns sehr nahe stehenden Freunden, die ebenso im Westen lebten. Es waren exakt jene Westkontakte, die für bestimmte Leute, auch Stasi genannt, ein Dorn im Auge waren und die deswegen eine Genehmigung zu einem Auslandseinsatz von vornherein erschwerten. Man sah in diesen familiären Verbindungen eine Möglichkeit für diese Auserwählten, den nächsten Weg zu ihren Angehörigen zu finden. Genügend Beispiele gab es dafür, dass bei der ersten sich bietenden Gelegenheit diese Chance genutzt wurde. Wie ein Lauffeuer verbreitete sich eine solche Nachricht, wenn sich wieder einmal jemand aus den eigenen Reihen abgesetzt hatte.

Außerdem musste ich mir eingestehen, dass meine fehlende Parteizugehörigkeit nicht unbedingt förderlich für eine positive Entscheidung sein würde. In der Summe all dieser Fakten ergab sich eine für uns denkbar ungünstige Konstellation, einen Auslandseinsatz bewilligt zu bekommen. Trotzdem hielt uns nichts davon ab, unsere Bewerbung dafür einzureichen. Uns war absolut klar, dass wir durch die vorhandenen Hindernisse mit einer schnellen Ablehnung durch die Sicherheitsabteilung unseres Betriebes zu rechnen hatten. Doch wer nichts versucht, hat schon verloren, flüsterte uns eine innere Stimme zu.

Gesagt, getan. Ohne große Hoffnung auf eine positive Rückmeldung konzentrierten wir uns lieber auf unseren Familienzuwachs.

Da unsere Familie nun absehbar größer werden sollte, kauften wir uns über ´Beziehungen´, ohne die kaum jemand in der DDR existieren konnte, einen gebrauchten Skoda MB 1000. Dieses Auto war himbeerfarben lackiert, zum anderen hatte es eine lustige Bügelfalte, mittig über das Dach gezogen. Das war das Erkennungszeichen dieses Autotyps schlechthin. Es rollte uns von A nach B mit einem Badewannen-Sitzgefühl, tief und bequem.

Ein Auto, das war der ganze Stolz einer DDR-Familie. Und auch wenn es fast schrottreif war, es war immerhin noch ein fahrbares Auto. Für ein Neues musste man erst einmal eine Autobestellung in Auftrag geben. Tröstliche fünf Jahre Wartezeit wurden damals versprochen, was nur eine verbale Zusage darstellte. Um ein nagelneues Auto zugeteilt zu bekommen, kaufen konnte man es ja nicht nennen, harrte man mitunter fast zwanzig Jahre aus, bis diese Anschaffung fruchtete. Möglichst jung an Jahren und frühzeitig sollte man angefangen haben, eine Autobestellung auszulösen.

So auch mein Mann und sein Studienfreund, die nach dem Ende ihrer Studienzeit, es war zudem ihr erster Arbeitstag, auf diese clevere Idee kamen: „Wir beantragen ein Auto, einen Typ Wartburg mit Viertaktmotor“. Weder Witz noch Ironie waren dabei mit im Spiel. Sie hatten zwar noch keinen Pfennig verdient, doch mit dieser Autobestellung machten sie Ernst. Ich sehe heute noch den kleinen rosaroten Bestellzettel vor meinen Augen, der einen handgeschriebenen Nachtrag: mit Viertaktmotor, beinhaltete. Darauf legten die beiden großen Wert, obwohl ein Auto mit einem solchen Motor in der DDR noch nicht hergestellt wurde, zu dem Zeitpunkt nicht einmal bekannt war, ob er überhaupt jemals gebaut würde. In der Annahmestelle notierte man diesen Extrawunsch zusätzlich zur Standardausführung und es sollten exakt siebzehn Jahre vergehen, bis dieser Wartburg geliefert wurde. Natürlich mit einem Viertaktottomotor!

In der DDR musste man möglichst doppelt so alt werden, um in den Genuss all seiner Bestellungen zu kommen, hieß es im Volksmund. Auch wurde über diese Problematik oft gewitzelt mit ganz versteckter Ironie: „Nun muss man tatsächlich auf ein Auto nur noch vier Tage warten. Einen Tag der Anmeldung plus drei Parteitage.“ Wer mit dieser Realität nicht umgehen konnte, wurde spätestens durch derartige Witze eines Besseren belehrt.

Dennoch, wir waren mit unserer kleinen Welt vollauf zufrieden, lebten in einer akzeptablen Dreizimmerwohnung inmitten der Platte, in der hemmungslos gewerkelt wurde, um unsere Lebensqualität stets etwas zu verbessern. An Improvisationsmöglichkeiten dazu fehlte es nie und wir vermissten nichts, was uns noch glücklicher werden lassen konnte.

Trotz aller Bedenken hatten wir uns für diesen Auslandseinsatz beworben und den speziellen Antrag mit seinen üblichen bürokratischen Befragungen ordnungsgemäß ausgefüllt. Es wurde unsererseits auch nichts verschwiegen, weder die Oma noch die Tante aus dem Westen. Etliche Wochen waren seitdem ins Land gegangen, aber es passierte gar nichts. Keinerlei Informationen über die Bearbeitung unserer Formulare oder möglicher Details sickerten bis zu uns durch. Weit und breit gab es keine Spur irgendeines Hinweises, nicht einmal eine Rückfrage zu unserem Antrag erhielten wir. Das war`s, sagten wir uns.

Währenddessen erhielt mein Mann ein weiteres lukratives Angebot, das ihn gleichermaßen interessierte. In diesem Fall hätte er sein Hobby zum Beruf machen können, um eine Radsporttrainerlaufbahn in Gang zu setzen. Mit einer professionellen Ausbildung und den damit verbundenen Entwicklungschancen, die später vielleicht ebensolche Einsätze im Ausland wahr machen könnten, versuchte man ihn zu gewinnen. Eine baldige, sicherlich auch positive Entscheidung wurde von ihm dazu erwartet. Plötzlich ergab sich damit eine weitere Alternative für uns. Was konnten wir jetzt tun? Eine Entscheidung musste fallen. Die wichtigste Frage war, eine Antwort auf unseren Antrag für einen Auslandseinsatz so schnell als möglich zu erhalten. Wer, wann, warum und wieso traf dabei die letzte Entscheidung? Wer nicht fragt, bekommt auch keine Antwort.

Somit war der Gang zu Zeiss der nächste Schritt. In der Vorahnung abgelehnt zu werden, nahmen die Dinge jedoch einen überraschend anderen Lauf. In einem Gespräch wurde meinem Mann zugesichert: „Das klappt, mit dem Auslandseinsatz. Und melde schon mal die andere Sache mit dem Sport ab.“

Was war damit konkret gemeint? Wieso dürfen wir überhaupt raus aus unserem Land? Wann können wir damit rechnen und wohin soll die Reise eigentlich gehen? Uns glühten die Köpfe, durchwachte Nächte mit heißen Diskussionen waren die Folge. Ich verstand die Welt nicht mehr, versuchte es zwar, kam allerdings auf kein anderes Ergebnis, es als ein großes Glück auf unserer Seite zu betrachten. Zufall oder doch Fügung des Schicksals? Wir hatten keine Erklärung. Ab dem Moment dieser Bestätigung war ein innerer Spannungszustand nicht mehr zu leugnen. Alles war dabei mit im Spiel: Neugierde, Vorfreude und auch Ungeduld.

In den darauffolgenden Tagen enträtselte sich zumindest eine der vielen Fragen, als es hieß: „Du gehst mit deiner Familie nach Australien“. Einfach so, friss Vogel oder stirb. Kommentar- und emotionslos wurde ihm das Land, indem wir vier Jahre lang arbeiten sollten, mitgeteilt.

Wir dagegen schwebten auf Wolke sieben und konnten es nicht glauben. Andere Kandidaten, die aus unserer Sicht eine viel ´sauberere Weste´ für einen Auslandsaufenthalt mitbrachten, erhielten dagegen eine Absage. Musste ich mir darüber Sorgen machen? Nein, überhaupt nicht. Ich sah diese Entscheidung eher als eine gute Mischung aus verdammt viel Glück mit großen Erwartungen in die Zukunft und die gab es plötzlich auf unserer Seite. Wir hatten uns für einen Auslandseinsatz entschieden und jetzt wollten wir diese Chance auch nutzen. Mit jener, für uns positiven Nachricht von Zeiss meldete mein Mann die Trainerlaufbahn ab und begann umgehend damit, sich voll und ganz auf Australien zu konzentrieren. Relativ zügig bekam er den Titel ´Auslandskader´. Damit war die erste Hürde genommen. Welch einer spannenden Zeit wir entgegensahen, war uns zu dem Augenblick überhaupt nicht richtig bewusst. Jetzt ging es Schlag auf Schlag weiter, so wie sich auch mein Bauch mehr und mehr wölbte.

Um dieses große DDR-Unternehmen im Ausland zu vertreten, sollte man all seine Produktionsbereiche kennengelernt haben. Vom Planetarium bis zur Mikrometerschraube verlangte es überdurchschnittliche Kenntnisse, um auf dem Außenmarkt bestehen zu können. Jetzt wurde organisiert, arrangiert und geschult. Ein Lehrgang löste den Nächsten ab. Täglich wuchs zu Hause der Stapel an Prospekten, der sich am Abend auch noch zur Gutenacht-Lektüre eignete. Es war damit nicht mehr zu übersehen, dass für uns ein neues Zeitalter angebrochen war. Immer seltener trafen sich unsere Blicke, in denen geschrieben stand: Aber warum ausgerechnet wir? Wir ließen diese Frage vorerst ruhen, sie interessierte uns nur noch unterschwellig. Vielleicht ergab sich irgendwann einmal eine Antwort darauf.

Mittendrin, in einem dieser Ausbildungskurse wurde mein Mann zu zwei Kollegen gebeten, die ihn mit einer überraschenden Neuigkeit konfrontierten. Freudestrahlend klopfte ihm einer von den beiden auf die Schulter und legte mit den Worten los: „Na, hier ist ja unser dritter Mann. Wann kommst du denn nach Mexiko?“

Zu gern wäre ich dabei gewesen, um sein Gesicht zu sehen, als die Herren ihm diese sensationelle Botschaft verkündeten. Bestimmt hatte es einige Momente gedauert, bis er seine Gesichtsöffnungen wieder auf Normalgröße reduzieren konnte. Ab jetzt drehten sich die Mühlen wieder anders herum. Unverständlich blieb für uns nur, wie diese Entscheidung für Mexiko zustande kam. In einer Zeit, in der die Sicherheit und Überwachung der Auslandskader, die für ein nichtsozialistisches Wirtschaftsgebiet (NSW) vorgesehen waren, über alles gestellt wurde, erfuhr man rein zufällig über Dritte, wohin die Reise nun wirklich gehen sollte. Wie konnte das sein? Nachzufragen, warum nun Mexiko und nicht mehr Australien auf dem Masterplan stand, erschien ihm überflüssig. Mexiko, das beschäftigte uns ab sofort permanent.

Für meinen Mann gingen die fachspezifischen Kurse weiter, als wäre alles beim Alten geblieben. Jede Abteilung wurde aufgesucht, um Wissen und neue Erkenntnisse anzuhäufen. Neu war nicht zuletzt auch die Sprache. Für uns wurde dafür ein mehrwöchiger Spanisch-Sprachkurs organisiert. Dabei trafen wir auf einen illustren Haufen junger Familien, die ebenso für Spanisch sprechende Länder auserwählt waren. Alle hatten nur das eine Ziel vor Augen: ´Wir kommen raus und können die Welt sehen´. Man sprach untereinander viel über die Hoffnung, dass letzterer Wunsch in Erfüllung gehen möge. Diese Perspektive hielt bei jedem Einzelnen die Spannung hoch. Uns erging es genauso.

Es wurde ein verdammt heißer Sommer. Der Monat August gab alles, was ihm an Sommersonnenhitze zur Verfügung stand. Ich sehnte den errechneten Entbindungstermin herbei, aber unser Kind war strikt der Meinung, dass es sich mit zwei Tagen Verspätung auch noch der Welt zeigen konnte.

Unerfahren und deswegen viel zu früh am Kreißsaal klingelnd, öffnete uns eine freundlich lächelnde Hebamme. Schwester Waltraud stand auf ihrem schneeweißen Arbeitskittel. Sie hatte gerade erst ihre Nachtschicht begonnen und nahm mich fortan unter ihre Fittiche. Spät, kurz vor Mitternacht waren wir dort gelandet und die Zeit der nahenden Geburt wollte nicht vergehen.

Was macht man denn so kurz vor dem schönsten Augenblick, den eine Mutter erleben darf? Man kreißt und kreißt und kreißt im Kreißsaal herum.

Schwester Waltraud verstand sich gut darin, mich durch angenehme Gespräche abzulenken, um nicht ständig in mich hinein zu horchen, denn was ich als erste Wehe interpretierte, war für sie noch lange kein Grund nervös zu werden. Sie konnte mir die Zeit bis zur Entbindung durch unsere Unterhaltung angenehm verkürzen. Somit erfuhr sie über unsere bevorstehenden vier Jahre in Mexiko. Mein Versprechen, ihr eine Karte aus diesem fremden Land zu schicken, habe ich eingehalten und nur einige Jahre später konnte ich mich dadurch bei Schwester Waltraud ein weiteres Mal in Erinnerung bringen.

Geburt unserer Tochter

Fast auf die Sekunde genau, es war mittags zwölf Uhr, hielt ich unsere Tochter in meinen Armen und konnte das Glück kaum begreifen. Sie war für mich das schönste Baby auf Erden, und selbst Schwester Waltraud gab kund: „Oh, die Kleine ist aber auch hübsch. Und wie soll sie denn heißen?“

In dieser Fülle an Glückseligkeit sprudelte es nur so aus mir heraus: „Anne! Sie soll Anne genannt werden.“

Immer wieder wurde davon erzählt, dass es ein Wunder sei, ein Kind zu bekommen. Jetzt, mit der Kleinen in meinen Armen, konnte ich das nur noch bestätigen. Diesen Winzling hatte ich in der Frauenklinik als Wickelpaket zum Stillen bekommen. Sicher waren die vorbereitenden Kurse für den kleinen Erdenbürger sinnvoll und hilfreich gewesen, doch als wir unsere Anne daheim das erste Mal aus ihrer ´Verpackung´ holten, gab dieser Sprössling meinem Mann den Anlass zur Kontrolle, ob auch wirklich alles an ihr funktioniert. Jedes Körperteil wurde separat begutachtet, hin und her gedreht und mit wachsender Begeisterung sagte dieser junge Vater: „Du, das glaubst du nicht, die Gelenke kannst du richtig bewegen, selbst die kleinen Finger machen alles mit.“

Was hatte er denn sonst gedacht. Mit großer Sorgfalt war er dabei, jeden Finger, auch die Zehen, eigentlich alle Gliedmaßen auf ihre Beweglichkeit zu kontrollieren. Ihm dabei zuzuschauen war für mich der größte Genuss.

Verwandte und Freunde waren längst über unseren Familienzuwachs informiert. Kaum aus der Klinik entlassen, rissen die Besuche nicht mehr ab. Ein jeder schien nach der Begutachtung unserer Tochter zufrieden zu sein, wir bekamen fast immer den gleichen Wortlaut zu hören: „Na, die Kleine habt ihr aber gut hinbekommen.“

Indessen kehrte unser Alltag allmählich wieder ein, obwohl er seitdem durch die Anne-Zeitrechnung bestimmt wurde. Auch stellten sich neue Fragen um den immer näher rückenden Auslandseinsatz in Mexiko. Wie musste ich mir die Hauptstadt vorstellen, in der wir arbeiten und leben sollten? Man hörte und las sehr wenig über Land und Leute. Wo werden wir wohnen? Gibt es Arbeit für mich? Ab wann, und wenn es so sein sollte, was wird mit unserer Anne? Wird sie gesund und glücklich dort aufwachsen können? Wie packt das der kleine Wurm überhaupt in dieser Höhe? Immerhin liegt die Hauptstadt 2.200 Meter hoch. Diese Tatsache gab mir Anlass genug, mich damit immer und immer wieder auseinanderzusetzen. Außerdem galt Mexiko zu dieser Zeit in der DDR als ein Entwicklungsland. Bei diesem Begriff stellte ich mir nicht nur das Gesundheitswesen rückschrittlich vor, alles Weitere wurde gleich mit infrage gestellt. Was isst man in Mexiko? Andere Länder, andere Sitten. Aber welche? Wie wird der Jahreszeitenwechsel sein? Brauchen wir Wintersachen? Und, und, und? Fragen über Fragen häuften sich an, auf die mir bisher niemand eine ausführliche Antwort geben konnte. Nur bruchstückhaft gab es hier und da mal eine Nachricht über das Land und seine Menschen. Jedoch das, was mich so brennend interessierte, blieb auf der Strecke.

Bald darauf verkündete mir mein Mann, dass ihm eine Dienstreise nach Mexiko zugesagt wurde. Meine Freude darüber war zu Beginn riesig, weil ich dadurch viele meiner Fragen endlich beantwortet bekäme. Andererseits wuchsen auch meine Bedenken täglich ein Stückchen mehr. Wie musste ich mir das vorstellen, wochenlang ohne jeglichen Kontakt zu ihm? Schnell einmal zu telefonieren, wäre heutzutage kein Problem, doch damals ohne Telefonanschluss? Wir hatten zwar immerhin schon einen Antrag dafür gestellt, aber noch lange keine Vorrichtung zum Telefonieren erhalten. Dieses Dilemma ließe sich in etwa mit der langjährigen Autovorbestellung vergleichen. Immerhin wartete man bis zur Installation eines Telefons nur vierzehn Jahre und somit ganze drei Jahre weniger als bis zur Auslieferung eines Autos. So war der Stand der Dinge damals. Es war im Grunde egal, welcher Weg einer Kommunikation der bessere wäre, es blieb ein schwieriger. Briefe oder Karten. Wie lange braucht die Post, bis eine Nachricht von dort nach hierher eintraf? Plötzlich war es da, das Gefühl, dieser Situation hilflos ausgeliefert zu sein. Solche Gedanken musste ich vorerst beiseiteschieben, sie nahmen zu viel Raum in mir ein.

Relativ zügig, ungefähr sechs Wochen nach der Geburt unserer Tochter, erhielt er das Visum für seine erste Dienstreise nach Mexiko.

Er allein, so schnell und was ist mit uns, wie soll das denn gehen? Sie war zurück, meine innere Stimme, die mir sagte, plötzlich einsam und verlassen zu sein. Aber jetzt müssen wir das irgendwie durchstehen, dieser Gedanke ergab für mich die einzige Alternative, auch wenn Freud und Leid so eng beieinander lagen.

Seine Reise rückte beständig näher, selbst dadurch konnte ich es immer noch nicht richtig begreifen, dass unsere kleine Familie in absehbarer Zeit mit Sack und Pack über den großen Teich fliegen würde. Schnell, viel zu schnell verstrich die Zeit, bis er sich auf diesen langen Weg in ein unbekanntes Land machen sollte. Somit hieß es erst einmal Abschied nehmen von meinem Mann, dem jungen Papa. Sein Abreisetag ging mir förmlich unter die Haut. Ich konnte nicht einschlafen. In einem Dämmerzustand verfing ich mich ständig in den Gedanken, wo er jetzt sein mochte und ob alles gut gegangen war. Mit dem Blick in die Sterne habe ich mich oft getröstet und mir gesagt, die da oben sieht er genauso wie ich, klar und deutlich. In den Nachthimmel zu schauen blieb lange Zeit die einzige Verbindung zu ihm, und es hatte sogar etwas Tröstliches. Acht lange Wochen sollte er vorerst in Mexiko bleiben. Er fehlte mir seit der Stunde unseres Abschieds. Jedoch, ich hatte unseren kleinen Schatz, der mich wunderbar in Beschlag nahm und mich von meiner schwermütigen Stimmung ablenken konnte. Es genügte schon, in ihr strahlendes Gesicht zu schauen, sie friedlich schlafend zu beobachten oder wenn sie hellwach mit großen Augen ihre kleine Welt eroberte. Ob sie ihren Papi auch vermisste?