Die Wächter Leseprobe

The Sentinel (Prolog)

Everyday people
Everyday shame
Everyday promise shot down in flames
Everyday sunrise
Another everyday story

Ruhe hat sich über das Tal gelegt. Dunkle Regenwolken sind aufgezogen. Es dämmert. Ein einsamer Wanderer. Männlich, weiß, deutsch. 175 Zentimeter in Cowboystiefeln, mit Vollbart und Motörhead-Shirt unter einer verblichenen Lederjacke. Löchrige Jeans und vier Dekaden Lebenserfahrung im Gepäck. Er blickt über durchnässte Wiesen. In der linken Hand ein Spektiv, über der Schulter ein altes Fernglas der Marke Steiner, dessen Gläser im Verlauf ihrer Existenz schon so vieles erblickt haben. Wertneutral. Kein Gut, kein Böse. Das Sein aus Sicht des Beobachters.

In 200 Meter Entfernung stehen sie. Aufgereiht. Regungslos. Weiß. Die Wächter. Stille. Nur der Wind und das Knistern einer Zigarette. Gedankensplitter. Der Weg hierhin. Erhabene Momente. Für die Ewigkeit. Siege. Niederlagen. Hochmut und Abgründe. Einer der Wächter regt sich. Er fliegt auf den Wanderer zu, gewinnt an Höhe, steigt auf und zieht über den Menschen, der nun so regungslos da steht, wie der Vogel noch vor wenigen Momenten, hinweg. Der Wächter. Autopoiesis. Ich bin der Wächter. Es gibt Dinge zwischen Himmel und Erde, die sich schulwissenschaftlich nicht erklären lassen. Tiefe Verbundenheit jenseits des Greifbaren. Eine neue Hoffnung.

Zurück auf Anfang.

Mich haben schon immer die Geschichten des oft bemühten ´kleinen Mannes´, dem, der meist alles bezahlen muss, seine Sonnenauf und -untergänge berührt. Geschichten, die das Leben schreibt. Jene, die aus der Asche der Alltäglichkeit herauf ziehen und im Ruhm gewöhnlicher Tage aufleuchten. Everyday Glory. Gewöhnlicher als mein Leben kann keines verlaufen. Auf den ersten Blick. Der zweite, der eine gewisse Tiefe erfordert, wird jenen, die in der Lage sind zu sehen, Universen eröffnen.

Das vorliegende Buch ist eine Fortsetzung, in zwei Teilen gar, meiner Veröffentlichung Auf dem Weg zu mir. Und dabei hatte ich am Ende des ersten Teils einer großspurig als Trilogie angelegten Ornitiographie, wie sie der Verlag nannte, zunächst behauptet, ich warte bis zum Herbst meines Lebens, um erneut los zu gehen. Geschwätz! Smash it up! Ein Wetterleuchten über einem unbedeutenden kleinen Leben in einer südniedersächsischen Kleinstadt. The shape of things to come.

Verdammt, ich habe in den zurückliegenden Jahren meinen Weg verloren und wieder gefunden und wieder verloren und wieder gefunden. Ein misanthroper zwar. Ein rückwärts gewandter und doch im Hier und Jetzt. Ich bin heimatlos und heimgekehrt. Heim in die Welt der Vögel. Wegweiser. Lebensbegleiter. Identitätsstifter. Wächter.

Gestern war heute noch morgen. Und heute bin ich. Aufrecht, stolz und unbelehrbar. Anker und Fels in der Brandung. Leuchtturm. Und irgendwie doch ein rollender Stein. Egozentrisch und laut. Ungerecht und hart, aber immer denen zugewandt, die nicht versuchen, sich mir in den Weg zu stellen.

Mein Weg ging nicht immer steil nach oben. Häufig bin ich gestolpert und habe mir die Knie aufgeschrammt. Die Welt vor meinem Fenster ist eine andere, als die in meinem Kopf. Das Utopia des ´Planeten Meyer´ ist mit dem, was wir Realität nennen, kaum zu vergleichen. Und die Realität heute hat nichts mit der zu tun, die meine Generation einmal kollektiv wahrgenommen hat. Wie wahr diese Aussage tatsächlich ist, habe ich am Ende der Zeiten erst erfahren.

Splitter dieser in den Dekaden begrabenen Realität befeuern die Matrix und picken auf dem Rasen meines Gartens. Ich habe in den vergangenen Jahren erkennen müssen, dass nicht Menschen meine liberale Grundhaltung nähren, sondern Vögel. Freiheit. Fernab von den Zwängen der Summe der Rollen, die ich spielen muss. Ständig auf der Flucht vor den Krakenarmen der Staatsmacht, und den orwellesken Auswüchsen des Mainstream abgewandt, kehre ich Heim in eine Welt, die ich nur mit der stagnierenden Evolution der Vögel, die ein Menschenleben begleiten und bewachen, nämlich meines, teile.

Einen Vogelführer habe ich mit dem vorliegenden Buch nicht verfasst. Das war nie meine Absicht, und fachlich könnte ich das auch gar nicht. Wohl aber eines, das zeigt, auf welche Weise das Leben eines Menschen mit denen der Vögel verwoben sein kann. In jeder Sekunde. Für den Notfall liegt ein Fernglas neben der Tastatur. Man kann nie wissen, ob nicht gerade ein 1q#üwwwwwwwwwwwwwwwfkpvm755555555gedgtjk579…hop-pla, vorbeifliegt, ah, nein, zwei Dohlen.

So, wo war ich? Ach ja! Verwoben… Mein Leben hat sich in den vergangenen fünf Jahren, nach langer Abstinenz, wieder dem Takt der Vogelleben angepasst. Sie bedingen meine derzeitige Existenz. Ob ich mir das Schlüsselbein breche, das Aufwachsen meiner Tochter begleite, mündliche Prüfungen komplett in den Sand setze, Idole sterben sehe, mich von der Welt entfremde, ihre Last auf meinen Schultern trage; ja selbst als Trump entegen aller Vorausschau sogenannter Experten US-Präsident wurde, irgendwo ist da immer ein Vogel, der über mich wacht und dem ganzen einen Sinn gibt.

Das, wovon dieses Buch berichtet, ist bereits Geschichte. Meine Geschichte. Weltgeschichte. Einiges, von dem ich erzählen werde, ist überholt, unwahr geworden oder hat sich als Fehler herausgestellt. Ich habe es nicht korrigiert, weil ich es in jenen Momenten so wahrgenommen oder gefühlt habe. Eine retrospektive ´Geschichtsrevision´ ist meinem Ansatz ans Leben nicht dienlich. Deswegen tauchen die Ringdrossel, die ich so lange gesucht habe, bis sie mir in diesem Frühjahr endlich vor die Linse kam, Meerstrandläufer, Baltische Heringsmöwe, Zwergseeschwalbe, Zwerggans und Zwergdommel (!) in diesem Buch allenfalls durch einen literarischen Trick auf. Während ich diese Zeilen Ende Mai, schreibe, sind bereits 234 Vogelarten (!) in meinem Notizbuch niedergeschrieben. Was zu der Frage führt, ob es nicht klüger gewesen wäre, das Buch erst jetzt zu verfassen, nachdem ich so viel besser geworden bin! Müßig. Wir werden besser. Jeden Tag. Jedes Jahr. Der Weg als Ziel.

Herbert Wehner hat seine persönliche Korrespondenz gewöhnlich mit der Formel Ich diene … unterschrieben. Was zunächst umständlich und altmodisch wirkt, entpuppt sich in diesen Zeiten als charmante Formulierung. Ich diene. Und mir dient das Leinetal als Bühne. Dass ich das menschliche Theater so lebensnah wie möglich darzustellen versuche, sollte der Leser nicht damit verwechseln, dass ich tatsächlich alles, was mein Leben ausmacht, in dieses Buch packen würde. Ich bin schließlich nicht lebensmüde! Manchmal neige ich dazu, ein wenig zu überspitzen, aber auch Authentizität als Stilmittel einzusetzen und darauf zu vertrauen, dass sich die Gedanken, die ich mir mache, mit denen vieler Menschen decken und ihnen somit der Nimbus des Besonderen genommen wird. „Er kann das doch nicht ernsthaft so schreiben…???!!!“ Doch er kann, weil er glaubt, dass jeder einzelne das so oder so ähnlich auch schon einmal im Kopf hatte. Das bitte ich zu berücksichtigen, bevor man mir in meine Welt und in meine Zeit folgt. Meine Zeit? Definitiv nicht meine Zeit. Ich mache das Beste daraus. Die Verkehrung ins Gegenteil: The Beach Boys – I just wasn´t made for these times …

Der Inhalt eines Buches sollte immer für sich sprechen. Bücher, die Königserläuterungen bedürfen, beäuge ich skeptisch. Ich empfehle dennoch, beim Lesen einen Vogelführer zur Hand zu haben. Am besten Was fliegt denn da? von Barthel/Dougalis.

Die Kapitel dieses Buches sind an Songs angelehnt. Wer sich eine Playlist mit den Liedern zusammenstellt, kann sich vielleicht noch besser vorstellen, was der Autor gefühlt hat, als er die einzelnen Episoden erdacht oder rekapituliert hat. Ach, was rede ich denn: Playlist? Neumoderne Kacke! Eine CD brennen! Oder noch besser: Ein ´Mixtape´ machen!

Notwendig sind aber weder Vogelführer noch CD, um das Buch zu lesen. Was man hingegen wirklich braucht, um mit Altkanzler Schmidt zu sprechen, ist der Wille: „Willen braucht man. Und Zigaretten“.

Einbeck, im Mai 2017

Buch 1 (EN): Grow or Pay

There was a real thin line
Between right or wrong
In those Walt Disney times
When my parents were young

But the line has disappeared
And you wonder where it hides
And you wanna go out
But you stay inside

I got run over by truth one day
Didn’t see the red light
Since the accident, I’ve walked this way
I only did what felt right

But from this day on
It’s either grow or pay
Grow or pay
‘Cause I got run over by truth one day

Sometimes the sky’s so gray
That you cannot see beyond it
And even the wildest of dreams
Can’t take those lines from your forehead

Yeah, I know there’s a bill
And it’s gonna make it’s way somehow
With an excuse and a bow

I’ll be paying it now

Smalltown Heart (Heimat)

I know how a small town heart speaks to these stars
But you know there ain’t no stars in the city
You can’t see stars in the city
You can only run so far, you’ll always have a small town heart

(Austin Lucas, Smalltwon Heart)

Ich wurde in den ersten Tagen des Jahres 1976 geboren. Am 03.01.1976, um genau zu sein.

Status Quo nehmen in meinem Geburtsjahr unter Einfluss von Speed Blue for You auf und sind die unangefochtenen Anführer einer Armee von langhaarigen Rüpeln in Jeans und Leder. Meine spätadoleszente Optik wurde mir zeitweilig quasi so schon in die Wiege gelegt. Die KISS-Army beäugt den neuesten Opus ihrer Heroen namens Destroyer zwiespältig und verwirrt lassen die Herren Ramone in meinem Geburtsjahr die wenigen Hörer ihres selbst betitelten Erstlingswerkes zurück. Bis heute drei meiner absoluten Lieblingsplatten. AC/DC verteilen billigen Dreck in Langrillen und die flötenden Rattenfänger von Jethro Tull fühlten sich bereits vor vier Dekaden Too old to rock´n´roll, too young to die und Rush veröffentlichen das Jahrhundertalbum 2112.

Musikhistorisch nicht nur wegen der eben genannten Alben ein wichtiges Jahr, sondern auch deswegen, weil sich in England der Spirit of ´76, wie Cock Sparrer ihn dreißig Jahre später besangen, anschickte, Rockdinosaurier vom Schlage eines Ian Anderson und dessen Konsorten von ELP, Yes, Pink Floyd oder Genesis, von der Bildfläche zu rotzen. Junge Bands namens The Damned, The Stranglers, The Clash und die dominierenden Sex Pistols rissen für kurze Zeit den etablierten Gruppen das Zepter aus der Hand und gerierten sich übergangsweise wie die neuen Könige von England. Was für eine kreative und erfrischende Zeit, in die ich da hineingeboren bin! Doch kaum eine Bewegung hat ihre Kinder schneller zu Klonkriegern verkommen lassen, als die Punkszene. Nur wenige Ausnahmen konnten den Topographic Ocean des Progressivrock ernsthaft unterspülen.

Der deutsche Herbst lag noch ein Jahr in der Zukunft. Helmut Schmidt hat sich mit Mühe und Dank der F.D.P. als Kanzler halten können. In einer niedersächsischen Kleinstadt warteten ein Großhandelskaufmann und eine Krankenschwester in einer stürmischen Nacht auf die Geburt des ersten Kindes. Ich wurde einesteils in diese Welt gepresst und anderenteils mit einer Saugglocke geholt. Spötter behaupten, den Hirnschaden, den ich wohl davon trug, bemerke man bis heute. 2015 verflog sich ein Bulwer-Sturmvogel nach Deutschland. Noch ein ´Sturmvogel´ mit Hirnschaden.

Bis heute bin ich mit Makel behaftet, gebürtiger Northeimer zu sein. Aber meine Mutter hat damals doch als Schwester im Northeimer Krankenhaus gearbeitet! Oder sollten sie mich etwa zwischen Floristikbedarf zur Welt bringen und auf Kunstmoos betten, weil mein Vater so etwas vertrieb? Nur damit ich gebürtiger Einbecker bin?

Nun gut, es ist ja wie es ist und nicht weiter dramatisch. Oder doch? Alteingesessene Einbecker verzeihen noch immer nicht, dass die Kreise Einbeck und Northeim am 01. März 1974 aufgelöst und im neuen Landkreis Northeim vereinigt wurden. Unter mehr als dubiosen Umständen, aus Sicht der Einbecker. Als sie ab 2012 die Möglichkeit bekamen, die Nummernschilder der Autos wieder mit einem EIN zu versehen, statt dem Kennzeichen NOM, war ich einer der ersten, der dem nachkam. Eine Form regionalen Ödipuskomplexes wohl.

Einbeck ist ehemalige Hansestadt im Landkreis Northeim in Südniedersachsen und auf die Fläche bezogen die größte Stadt in der Region. 150 spätmittelalterliche Fachwerkhäuser prägen das Stadtbild und sind Magnet für viele Touristen. Überregional bekannt ist Einbeck wegen seiner jahrhundertealten Brautradition. Seit 1351 sind die Bierexporte belegt. Große Tore, durch die eine riesige Braupfanne passte, wiesen die alten Fachwerkhäuser als brauberechtigte Bürgerhäuser aus. Einbeck trat 1368 der Hanse bei und erweiterte so das Absatzgebiet des Bieres in europäische Nachbarländer bis hin nach Schweden.

Die Stadt liegt jeweils eine gute Stunde Autofahrt von den größeren Städten Hannover, Braunschweig, Hildesheim und Kassel entfernt. Die Universitätsstadt Göttingen erreicht man an guten Tagen in einer halben Stunde. Eingebettet ins Leinetal sind wir nur 20 Kilometer vom Harz und 15 Kilometer vom Solling entfernt. Das Beck in Einbeck bedeutet Bach, früher Beeke genannt. Der Ort am Bach wurde 1158 das erste Mal urkundlich von Barbarossa erwähnt. Stadtrecht erhält Einbeck 1252. 300 Jahre später, 1540, wird das mittelalterliche Städtchen bei einem Brand nahezu vollständig zerstört. Der zuvor erwirtschaftete Reichtum erlaubte aber einen raschen Wiederaufbau – bis die Stadt im Dreißigjährigen Krieg 1632 und 1641 besetzt und Hunderte Häuser erneut zerstört wurden.

Dass der gemeine Einbecker vor allem Bier brauen, zündeln und zerstören kann, untermauerte die SA 1938 und fackelte die örtliche Synagoge siegestrunken, verblendet und brutal ab. Das war noch vor Hitlers Europatour, die ´45 ihr vorhersehbares Ende nahm. Auch meine Großväter zogen durch Europa. Einbeck hat die Kriegswirren relativ unbeschadet überstanden. Der Stadtdirektor übergab die Stadt 1945 eigenmächtig und ohne Befehl des Wehrersatz-Inspekteurs des Wehrkreises XI an die US-Armee.

Vier Jahre nach dem Krieg, 1949, heirateten, aus Europa zurückgekehrt, Willi Meyer und Luise Gropp in Einbeck und Helmut Meyer, geb. Diekmann ehelichte Else Binnewies in einem Dorf unweit Einbecks. Meine Großeltern. Meine Großväter haben beide auf ihre eigene Weise den Krieg erlebt.

Steht es mir als Wohlstandkind zu – das ich dank ihrer Leistungen nach der Stunde Null bin – ihr Wirken im Kriege in irgendeiner Weise zu beurteilen?

Zwischen 15 und 20 dachte ich Ja, heute denke ich Nein! Als gelernter Maurer und Tischler leisteten sie ihren Beitrag zum Aufbau dessen, was ich heute Heimat nenne. Geographisch, nicht politisch. Eingebettet in ein soziales Umfeld aus Nachbarschafts- und Familienhilfe haben meine Großeltern ihren Kindern, meinen Eltern, ein Leben in bescheidenem Wohlstand im Kontext der Zeit ermöglicht. Sparsam, fleißig, stur und unbelehrbar lebten sie ihr Leben bis in das neue Jahrtausend hinein. Willi ist 2001 mit 81, und Helmut 2013 mit 86 Jahren gestorben. Aufrechte, sozialdemokratische Deutsche bis zum Ende. Beide stehen stellvertretend für ein anderes, ein gedemütigtes Deutschland. Und dennoch: Häuser wurden selbst gebaut. Nahrung selber angepflanzt. Bier getrunken und Zigaretten geraucht. Kinder zog man groß und entließ sie früher als diese wiederum uns in die Welt entlassen haben. Gefühle zu zeigen war ihre Stärke nicht. Das mussten ihre Frauen, wie das stumme Heer der Millionen Frauen anderer Kriegsheimkehrer, ertragen. Die taten dies ebenso stoisch, wie ihre Männer den Umstand ihrer verlorenen Jugend ertrugen. Die deutsche Hausfrau überlebte die Männer mit einer statistisch nicht unerheblichen Wahrscheinlichkeit. So auch meine Großmütter, die nichts wissen wollten von Emanzipation und Frauenrechten, von grüner Politik und Feminismus. In gewisser Hinsicht die wahren Heldinnen der BRD nach ´45. Langsam aber sicher sterben die letzten Zeitzeuginnen und ihre Erinnerungen an eine Zeit, als die Welt einfacher war. Als es noch Gut und Böse gab. Jeder und jede ihren Platz in der Gesellschaft hatte und auch die Mütter, deren Männer nur den Hof einer Fabrik fegten, ihren Kindern ein Leben jenseits sozialer Ungleichheit und Ausgrenzung ermöglichen konnten. Es war nicht alles schlecht, was früher einmal gut war. Männer waren Männer und Frauen waren Damen, die heimlichen Herrscher des Familienkollektivs. Der Wert einer Person wurde noch nicht an Bildungsabschlüssen, sondern daran, dass es die Frauen waren, die am Wochenende die Lohntüte abholten, bemessen. Meine Frau und ich haben bis heute getrennte Konten. Ist auf meinem zum Monatsende noch etwas mehr drauf, als auf ihrem, dann ist das aus Sicht vieler akademisch Berufenen ein Affront gegen die Frau und ein Akt des Chauvinismus, wenn ich ihr ´gönnerhaft´ meine Karte gebe, um einkaufen zu gehen. Zeiten ändern sich.

Doch nicht nur die Zeiten. Auch die Heimat ist Veränderungen in Architektur, Bevölkerungszusammensetzung, Wohnraum und Kultur(landschaft) unterworfen. Die Geschäfte, in denen meine Großmütter die Familien mit Nahrungsmitteln, so sie die nicht selber anbauten, eindeckten, sind schon lange nicht mehr da. Die Firmen, in denen die Großväter lernten und arbeiteten, existieren nicht mehr. Das Bild meiner Heimatstadt hat sich im Vergleich zu anderen Städten aber weniger radikal geändert, da man bemüht ist, den Charakter der Fachwerkstadt als Touristenmagnet beizubehalten. Die Kulturlandschaft hat sich verändert. Zwar sehe ich von den Kuppen der Umgebung nach wie vor viel Wald und Flur, stelle aber fest, dass es hauptsächlich Monokulturen sind, die dort angebaut werden. Ich komme aber aus Mangel an poetischen Worten trotzdem nicht umhin, die Landschaft als ´schön´ zu bezeichnen. Sie ist mir ans Herz gewachsen.

Heute lebe ich mit meiner Familie 300 Meter Luftlinie von meinem Elternhaus entfernt an einem Getreidefeld, in dem ich als Kind gespielt, als Jugendlicher geküsst habe, und als Mann nun abendlich von meiner Terrasse aus in die Ferne bis zum Waldrand sehen kann. Wenn ich an Sommerabenden dort sitze und sinniere, meine ich den jungen Hauke mit seinen Freunden dort zu entdecken. Auf dem Weg zu den Teichen und dem Abenteuerspielplatz Wald. Wie er einer unbekannten Zukunft entgegen strebt. Unbedarft und übermütig. Dann sehe ich einen langhaarigen Jugendlichen mit Kassengestell auf der Nase und einem klapprigen Fahrrad neben einem viel zu hübschen Mädchen, für einen langhaarigen Jugendlichen mit Kassengestell auf der Nase, die ihre Räder im Weizen verstecken und sich nicht trauen, die Reißverschlüsse der Hosen aufzumachen. Das war noch bevor wir wussten, dass es da draußen eine Welt in Moll gibt, auch wenn ich das als sensitives Kind bereits 1985, wie man in folgenden Kapiteln sehen wird, ahnte. Ich sehe einen Mann, der mit seiner künftigen Frau dort spazieren geht, die ebenfalls viel zu hübsch ist für einen kurzhaarigen Mann mit Kontaktlinsen, die er sich noch leisten konnte, bevor er sich verschuldete. Denn sie schauen sich Häuser an und träumen davon, in ein paar Jahren selber eines zu haben, in dem sie ihr Nest bauen können. Vor der Trennung und Versöhnung in Erkenntnis, dass es ohneeinander genau so wenig geht, wie miteinander. Objects in the rear view mirror may appear closer than they are. Und eh ich mich versehe, fährt ein kleines Mädchen auf ihrem Laufrad unsicher den Berg am Haus hinunter und verlässt sich darauf, dass ihr Papa auf sie aufpasst.

Meine Heimat.

Ich bemerkte es viele Jahre nicht, aber Sie waren immer da. Die Wächter. Oft ein ganzer Schwarm, manchmal nur eine Handvoll. Heute fühle ich mich ihnen verantwortlich, den Feldsperlingen. In der Kindheit, als das Interesse für Vögel aufkam, war es ein weiter Weg vom Weidenfeld zum Weizenfeld, wo die Spatzen mit den Punkten auf der Wange lebten. Sie haben mich begleitet. Meinen Vater schon und meinen Großvater auch. Generationen. Viele, viele Menschenleben. Wie vieler bedarf es noch, bis ihre Kraft aufgebraucht ist, sich in dieser Landschaft zu behaupten, die ihnen immer mehr Feind wird? Jahr um Jahr, seit ich wieder in diesem Teil der Stadt lebe, werden es wieder mehr. Ich kümmere mich um sie. Der Wächter.

Die Sonne steht hoch am Himmel. Lebenshalbzeit. Ich bin im Vollbesitz meiner physischen und psychischen Kräfte. Geerdet und verwurzelt im Leinetal. Meiner Heimat. 2014 habe ich (mir) Auf dem Weg zu mir mehr als 200 Vogelarten in der freien Wildbahn nachgewiesen und dabei nach Jahren der ´ornithologischen Abstinenz´ viel Lehrgeld zahlen müssen. Die offensichtlichen Fehleinschätzungen, auch in meinem ersten Buch, nehme ich aber für das Privileg, Vögel in der freien Wildbahn beobachten zu dürfen, in Kauf. Ich bin berufstätig in Vollzeit, habe Familie und andere Hobbys neben der Vogelbeobachtung. Sogar ein paar gute Freunde und soziale Kontakte leiste ich mir. Der Zeitaufwand, den ich betreiben kann, um Vögel zu beobachten, ist also überschaubar und weit weg von 24/7. Ich behaupte dennoch kühn, und für Bescheidenheit bin ich wahrlich nicht bekannt, dass die Gegend, in der ich lebe, eine der interessantesten ihrer Art in Deutschland ist und stelle die These auf, dass sich in dem Gebiet, das ich Heimat nenne, 250 Vogelarten binnen einen Jahres nachweisen lassen. Vorrangig berücksichtigen werde ich die Landschaften um Einbeck herum, weil ich bis heute nervös werde, wenn ich den Kirchturm nicht mehr sehen kann. Und das gelingt aus manchen Erhebungen des Leinepolders.

Die Leine entspringt im thüringischen Eichsfeld aus mehreren Quellen. Von dort aus geht es über Göttingen und Hannover (Leine-Bergland) bis nach Schwarmstedt, wo sich der Fluss mit der Aller vereinigt. Menschen, die sich lange genug mit mir unterhalten, werden schnell die Niederungen bemerken, zu denen mein Geist fähig ist. Kein Wunder, bin ich doch in einer solchen groß geworden. Noch dazu in einem Graben: Der Leinegraben ist eine Niederung im Süden Niedersachsens und des nordöstlichen Hessens. Bis in meine Heimatstadt Einbeck erstreckt sie sich in knapp 50 Kilometer Länge. Der Kerngraben engt sich auf zwei Kilometer bei Nörten-Hardenberg und teilt ihn in den Göttinger Leinegraben im Süden und den Northeimer Leinegraben im Norden. Bei Einbeck geht der Leinegraben nach Nordosten fließend in die Ilme und deren Zuflüsse über. Unmittelbar östlich Einbecks verlässt die Leine die Niederung über Bruchtal zwischen Salzderhelden und Kreiensen.

Einige Jahre vor meiner Geburt, erfolgte 1972 die großflächige Eindeichung von insgesamt fünf Poldern zwischen Einbeck und Northeim. Die Hochwasser der Leine waren bis weit in das 20. Jahrhundert hinein zu verheerend, als das man weiter tatenlos hätte zusehen können. Entstanden im Zuge dieser Maßnahmen sind die beiden nördlichsten Polder I und II, welche die vogelkundlich interessantesten sind.

Der Polder I grenzt südlich an den Flecken Salzderhelden und genießt einen besonders hohen Schutzstatus. Nur von den Deichen aus ist das Beobachten erlaubt. Ansonsten ist das Betreten verboten. Da der Hochwasserschutz vorgeht, kommt es in manchen, besonders regenreichen Jahren dennoch zu Totalausfällen der bodenbrütenden Vögel. Bis jetzt haben sich die Populationen aber immer wieder erholt und die Vögel kehrten stets in ihr Tal zurück. Zu verlockend ist das Mosaik an Lebensräumen, dass sie mit Schilfflächen, Grünland und einem durch Gräben und Hecken aufgelockerten Bewuchs von Sauergräsern (Seggenried) vorfinden. Die Leine fließt hier in ihrem natürlichen Bett und die ehemalige Kiesgrube und ein kleiner Tümpel sind daneben ständige Stillgewässer, die Lebensraum bieten.

Vgl,. Meyer, Hauke, Auf dem Weg zu mir – Ein Jahr im Tal der Vögel, Leipzig 2015

Warum auf einmal so viele Vögel, 50, mehr, als im vergangenen Jahr? Weil ich ein lernender Mensch bin. Ein Neugieriger. Ein Suchender. Und weil ich das Geheimnis entschlüsselt habe, weswegen ausgerechnet hier, in diesem unbedeutenden Teil der Welt, so viele von ihnen herumschwirren. Weshalb ich ein persönliches Interesse daran habe, die Stärke der Bataillone der Wächter, wie ich sie nenne, zu kennen. Und warum sie mir so viel bedeuten, möchte ich im folgenden Kapitel kurz skizzieren.