Agnes Lang: Infiziert – oder krank?/Leseprobe

Vorwort

Den vorliegenden Text verstehen wir als ein wichtiges Zeitdokument. Dies hat uns angetrieben, das Tagebuch zu veröffentlichen, was so zuvor nicht geplant war.

Als Pädagoginnen haben wir uns von Beginn an mit den Corona-Maßnahmen kritisch auseinandergesetzt. Sehr früh war uns klar, dass die Begründung der Maßnahmen zum Schutz des Lebens zu einseitig war. Sie hatte schwerwiegende Folgen für viele soziale und benachteiligte Gruppen, die unterschiedlich großen Schaden erlitten haben und heute noch darunter leiden.

Zum Gesundbleiben braucht es auch Formen für die seelische und psychische Gesundheit und nicht zuletzt soziale Kontakte, die gesundheitsfördernd sind und zum Wohlbefinden beitragen. Auch diese Aspekte werden in dem Tagebuch verdeutlicht.

Durch unsere Betrachtungsweise wurden wir auf die Anzeige einer Lesung von Auszügen dieses Tagebuches aufmerksam. Der Inhalt hat uns sehr berührt!

Wir würden uns sehr wünschen, dass aus den geschilderten Erfahrungen eine kritische Auseinandersetzung entsteht, um ausgewogene Entscheidungen und Maßnahmen zu treffen.

Seien Sie gespannt auf die Ausführungen! Wir sind überzeugt, sie werden Sie auch beeindrucken!

Die Folgen der Entwicklungen dieser Zeit sind auch eine zunehmende Spaltung unserer Gesellschaft. Spaltung ist gleichzeitig eine Störung des inneren Friedens eines Menschen. Eine der Rückmeldungen, die wir dazu erhalten haben, können Sie am Ende des Buches statt eines Nachwortes lesen.

Dornstetten, im Dezember 2020

Christa Dengler, Jutta Kohlrausch und Manfred Mergel

Wir sind eine ganz normale Familie. Vater, Mutter und zwei heranwachsende Söhne im Alter von 16 und 18 Jahren.

Bis zum Jahr 2020 hatten wir mit dem normalen ´Alltagswahnsinn´ jeder durchschnittlichen deutschen Familie zu tun. Wir hatten unsere Sorgen und Nöte, jedoch auch Freude und schöne Zeiten.

Mein Mann ist Religionslehrer im Schuldienst und hatte in der Vergangenheit immer wieder mit seiner Obrigkeit zu kämpfen. Eigene Entfaltung und eigene Meinungen sind nicht besonders erwünscht, geschweige denn ein besonderes Engagement, das nicht ausdrücklich vom Kultusministerium angeordnet wurde. Er findet trotzdem seine Erfüllung in seinem Beruf, denn er ist mit Leib und Seele Lehrer.

Ich arbeite in einem sozialen Beruf. Nach der Kinderpause wollte ich aus verschiedenen Gründen nicht wieder in meinen erlernten Beruf als Kauffrau in die Industrie zurückkehren. Ich entschied mich für eine ´sinnvolle´ Tätigkeit. Ich habe mich für die Seniorenarbeit entschieden. Hier, dachte ich, finde ich meine Bestimmung nach der Elternzeit.

Unsere Söhne gingen ihre schulische Karriere bisher mit unterschiedlichem Engagement an. Der Große ist zielstrebig und weiß genau, was er will. Dafür ist er bereit, alles zu tun, was erforderlich ist. Für die Ausbildung zum Traumberuf wird auch gerne mal eine Nacht durchgelernt.

Unser jüngerer Sohn jedoch sieht die Schule eher als Nebenschauplatz. Ist doch der Fußball so viel interessanter. Der Bauwagen so viel unterhaltsamer und die Action bei den Pfadfindern viel spannender als die Schule und das damit verbundene Lernen. Nach der Parole ´minimaler Aufwand, maximales Ergebnis´ war er bisher unterwegs und hat das auch, zu unserem Erstaunen, sehr gut gemeistert.

Im letzten Jahr hatten mich drei Bandscheibenvorfälle ´außer Gefecht´ gesetzt. Mit Müh und Not habe ich mich wieder in den Alltag zurückgekämpft, um ohne OP wieder alltagstauglich zu sein.

Seit fünf Jahren arbeite ich mit viel Freude in einem Seniorenheim. Dort bin ich für die soziale Betreuung der Senioren und Seniorinnen zuständig. Die schlechte Bezahlung und die Verachtung, die manche diesem Berufszweig entgegenbringen, haben mich manches Mal geärgert. Außerdem bin ich auch seit vier Jahren in der dortigen Mitarbeitervertretung tätig. Die Missstände sind bis in die Politik hinein bekannt. Gemacht wird nichts.

Im Januar 2020 war ich aufgrund meiner Bandscheibenvorfälle noch in Reha und habe mich mit viel Sport und Bewegung wieder berufsfähig gemacht, beziehungsweise ´machen lassen´. Mit der Auflage, zu Hause weiterzumachen und Rehasport und Rückenschule sowie Gymnastik zu treiben, kam ich voll motiviert aus der Reha zurück.

Schon in der Reha haben wir von einer neuen Seuche gehört, die anscheinend in China ausgebrochen sein soll. Wir hörten von schrecklichen Opferzahlen und unglaublichen Verbreitungszahlen. Wir haben es wahrgenommen, darüber gesprochen und doch nicht damit gerechnet, dass dies auch uns treffen könnte.

Mitte Februar habe ich meine Arbeit im Heim wieder aufgenommen. Meine Bewohner und Bewohnerinnen haben sich gefreut, dass ich wieder da bin und auch meine Chefin und meine Kolleginnen waren froh, dass ich wieder einsatzfähig war. Endlich wieder normaler Alltag …

KW 9 Fasching

Ende Februar ist Fasching. Für mich keine große Sache, für sehr viele Menschen eines der wichtigsten Events des Jahres. Viele sind Skifahren in den Faschingsferien. Gleich nach dem Aschermittwoch nutzen sie noch die paar Tage, um wegzufahren, und wollen sich nach den anstrengenden ´Narrentagen´ in den Bergen erholen.

In dieser Faschingswoche am Freitag, dem 28. Februar, kommt von unserem Vorstand ein Merkblatt, mit dem uns unser Hygienebeauftragter aufklärt, welche Vorsichtsmaßnahmen wir zu beachten hätten und dass das Tragen von Mund-Nasen-Schutzmasken zu empfehlen sei. Den Hinweis, dass diese Masken im Moment nicht beziehungsweise kaum lieferbar wären, können wir dem gleichen Schreiben entnehmen.

Aufgrund meiner Tätigkeit in der Mitarbeitervertretung erhalte ich fast zeitgleich Informationen von der Arbeitsgemeinschaft der Mitarbeitervertretungen und eine Pressemitteilung der Rechtsschutz GmbH des DGB mit der Überschrift: Coronavirus: Was Beschäftigte wissen müssen. Datiert vom 26. Februar 2020. Die Pressemitteilung selbst hat das Datum vom 6. Februar 2020, also zwei Wochen vor Fasching. Hier hätte es genügend Zeit gegeben, zu handeln und gewisse Veranstaltungen abzusagen.

KW 10 Vorboten

Anfang März werden dann die Meldungen massiver, dass das Virus auch Deutschland erreicht hat. Wir hören, einige Skifahrer hätten das Virus aus Ischgl nach Deutschland mitgebracht. Auch ist nicht klar, ob diese Skitouristen das Virus bereits an den Karnevalsfeierlichkeiten weitergegeben hatten. Als großer Infektionsherd wird nur der Ort Ischgl genannt.

Von unserer Vorstandschaft kommen die ersten Aushänge, wie wir mit dieser Situation umzugehen hätten.

Am 5. März 2020 kommt von der Arbeitsgemeinschaft der Mitarbeitervertretungen eine ´Handreichung für Mitarbeitervertretungen´ im Blick auf den Corona-Virus, wie die Mitarbeitervertretung sich gegenüber dem Arbeitgeber zu verhalten hätte. Wir werden auf unser Mitbestimmungsrecht aufmerksam gemacht. Wir erhalten eine wertvolle Zusammenfassung aller für diese Situation relevanten Eventualitäten. Bereits in diesem Schreiben ist von Kurzarbeit, Zwangsbeurlaubung, Freistellung von Infizierten und so weiter die Rede. Ich kann mir nicht vorstellen, dass es so weit kommen könnte.

Am Donnerstag hätten wir unseren Bewohnerstammtisch gehabt. Einmal im Monat treffen sich die fitten Bewohner und Bewohnerinnen unseres Hauses mit den Senioren und Seniorinnen aus dem benachbarten ´Betreuten Wohnen´. Das Treffen wird aufgrund der unglaublichen Meldungen in der Presse – rasende Verbreitung des Virus, katastrophale Bilder aus Italien – abgesagt. Alle sind sehr betroffen und traurig, ist dieser Stammtisch doch eine feste monatliche Einrichtung und eine wunderbare Abwechslung zu unserem normalen Heimalltag.

Jeden Morgen lesen wir den Bewohnern die Tageszeitung vor. Die Nachrichten sind täglich spektakulärer. Schlimme Bilder aus Italien und Frankreich sind in der Zeitung zu sehen und Berichte von unglaublichen Zuständen zu lesen. Wir hören von Lastwagen, die die Särge abtransportieren, in Bergamo. Manche unserer Bewohner äußern sich anschließend, dass das für sie kriegsähnliche Zustände wären. Ein Bewohner meint, es wäre ja schon hilfreich, wenn man wüsste, wer infiziert sei und wer nicht. Er spielt auf die App an, die jedem von Weitem mitteilen soll, ob man infiziert ist oder nicht.

Daraufhin sagt eine ältere Dame: „Soweit kommt´s noch, dass wir die Infizierten kennzeichnen.“

Dann meint jemand: „Das hatten wir doch schon mal: Die Juden mussten einen Stern tragen …“

KW 11 Erste Konsequenzen

Am Dienstag, dem 10. März, kommt vom Vorstand wieder ein langes Pamphlet, mit dem die neuesten Verhaltensmaßregeln für uns Mitarbeitende festgelegt werden. Man hat uns auf Risikogebiete hingewiesen und angewiesen, uns genau an die Bestimmungen zu halten.

Am Mittwoch, dem 11. März, hören wir von der Kultusministerin die Meldung, dass es keine Schulschließungen geben wird.

Schade“, sagt mein 16-Jähriger. „Das wäre doch cool gewesen …“

In der gleichen Woche am Donnerstag, 12. März, wird vom Vorstand ein offizielles Besuchsverbot für unser Haus verhängt. Da wir einer großen Trägerschaft angehören und in verschiedenen Landkreisen verstreut liegen, trifft es uns als Erstes. Der Nachbarlandkreis folgt dieser Aufforderung einige Tage später.